Methoden der Diagnostik zur Frage der Schuldfähigkeit.
in: Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung, Band 6/2.
Kerner, J., Kury, H., Sessar, K. (Hg) (1983)
Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, S. 1264-1287.
Methoden der Diagnostik zur Frage der Schuldfähigkeit
Methods for Diagnosing Criminal Responsibility
Abstract
In this article, the method-specific possibilities and limits of classical psychiatric -, anthropological psychiatric -, psychoanalytic -, and psychological diagnostics regarding the question of criminal responsibility (sec. 20 of the German Criminal Code) are discussed. The initial legal question is formulated more precisely and is understood as an evaluation of the offender’s decision-making processes by means of the judge’s common sense. This opinion is compared with current practice, in which the (psychiatric) diagnosis is in the center of the evaluation of criminal responsibility. Classical psychiatric diagnosis is regarded corresponding to its „split personality“ as psychiatric diagnosis is seen as an approach to „Verstehen“ on the basis of humanities while psychoanalytic diagnosis is considered as a highlighting alien to this method (of a continnously only preliminary „Verstehen“). „Verstehen“ in the guise of science, anthropological.
The basis of the discussion of a psychological approach to the question of criminal responsibility is the self-concept of psychology as a science. The existing diagnostic instruments are evaluated in the light of the concepts mentioned above: diagnostic tests and biographical anamnesis. We find that in the application of these procedures the claim of being scientific is not confirmed. Furthermore, we regret that the condition of any methodologically proper diagnostic, a general theory of personality, is not met and that the field of biographic anamnestics is hardly researched at all. We suggest to consider the diagnostic process also in psychology as a communication rocess between the expert and his customer and to recognize the importance of everyday knowledge, diagnostic experience, and the expert’s capacity of interpretation for psychological diagnostics. By means of a classification of existing tests, the test-psychological approaches to criminal responsibility and their limitations are discussed. A major problem is the lack of a psychological concept of illness. In a critique of an article in a German handbook, the shortcomings of today’s psychological diagnostics are discussed.
A final comparison of the four approaches mentioned above shows that some are better suited to diagnose and to classify illnesses (the classical psychiatric pological psychiatric approach), while others permit a better approach to motivational processes (psychoanalytic and psychological approach). Despite claims to the contrary, none of the four approaches offers criteria for the evaluation of the capacity for insight and self-control. This does not surprise since this problem is a normative one.
1. Einleitung
Der Kompetenzstreit zwischen Sachverständigen verschiedener Provenienz hat eine lange Tradition. Er ist bisher überwiegend mit Argumenten geführt worden, mit deren Hilfe jeweils ein bestimmter Gegenstandsbereich (z.B. „die Kranken“) als Domäne eines bestimmten Ansatzes reklamiert wurde. Im Gegensatz dazu soll jedoch im folgenden eine andere Argumentationslinie verfolgt werden: Anhand der durch die Methode gegebenen Voraussetzungen soll geklärt werden, von welchem Ansatz her am ehesten eine Verständigung zwischen Sachverständigen und Richtern in der Frage der Schuldfähigkeit zu erwarten ist. Es wird sich dabei zeigen, daß eine Antwort auf diese Frage entscheidend vom Verständnis der Frage nach der Schuldfähigkeit abhängt.
2. Juristische Voraussetzungen
Im Verlaufe der Reform des Strafrechts von 1975 bestand die Möglichkeit, die Regelung des Schuldausschlusses neu zu durchdenken und eventuell umzuformulieren. Dabei sollte die Tendenz der Rechtsprechung, zunehmend auch psychische Zustände ohne organische Grundlage als Exkulpierungsgrund zuzulassen, in den neuen Gesetzestext eingearbeitet werden, ohne daß auf der anderen Seite dieser vermeintliche Riß im Schuldstrafrecht zu einem Dammbruch desselben ausarten sollte. (2) Diesen überlegungen wurde durch insgesamt drei Maßnahmen Rechnung getragen:
1. Die sogenannte „schwere andere seelische Abartigkeit“ wurde neu in den Gesetzestext aufgenommen, um explizit auch nicht organisch bedingte Störungen in den Kreis der Exkulpierungsgründe aufzunehmen.
2. Die beiden nicht-organischen Störungen wurden mit quantifizierenden Zusätzen („schwere“, „tiefgreifend“) versehen, um ihrer Anwendung von vornherein Schranken zu setzen.
3. Der zweistufige Aufbau des vormaligen § 51 StGB wurde übernommen. Dabei war dem sogenannten „psychologischen Stockwerk“ nochmals die o.g. schwellenerhöhende Funktion zugedacht. Der von seiten der Deutscpn Gesellschaft für Psychologie gemachte Vorschlag (3) einer einstufigen Lbsung wurde aus diesen Erwagungen heraus verworfen. Auf die mit dem letztgenannten Punkt verbundene Problematik wird später noch zurückzukommen sein. Die Reform führte zu den folgenden Regelungen:
§ 20 StGB, Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
§ 21 StGB, Verminderte Schuldfähigkeit
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
In diesen Formulierungen lassen sich zwei oben bereits erwähnte Ebenen unterscheiden:
1. Das sogenannte „psychologische Stockwerk“ umfaßt die Voraussetzungen des Schuldausschlusses: krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewußtseinsstörung, Schwachsinn, schwere andere seelische Abartigkeit.
2. Das „normative Stockwerk“ umfaßt die ‚Fähigkeiten‘ zur Einsicht and zur Steuerung des Handelns hiernach (4)
Die damit vom Gesetzgeber gewählte Methode wird auch als ‚gemischte Methode‘ bezeichnet, die man als psychologisch-normative Methode bezeichnen kann: Es wird nicht unmittelbar darauf abgestellt, daß der Täter einsichtsunfahig war (das wäre die rein normative Methode), sondern es werden als Ursachen dieser Einsichtsunfähigkeit bestimmte „seelische Störungen“ angeführt; käme es auf sie allein an, so ware damit die rein psychologische Methode gegeben; nur wenn die Einsichtsunfähigkeit auf eine dieser Ursachen zurückgeführt werden kann, ist – wenn man sich an den WortSchuldunfähigkeit laut der gesetzlichen Regelung hält – gegeben (insofern also: „gemischte Methode“) (5)
Die Entscheidung uber das Vorliegen von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ist nach überwiegender Meinung von Strafrechtskommentatoren eine juristische, d.h. vom Richter zu beurteilende Frage: Der juristische Schuldbegriff ist ein normativer. (6)
Der Richter hat darüber zu entscheiden, ob es dem Angeklagten bei der ihm vorgeworfenen Tat zumutbar gewesen wäre, seine Willensbildung anders vorzunehmen. In einem ersten Schritt muß sich der Richter also in den Angeklagten, seine Persönlichkeit, seine Motive, aber auch seine Belastungen hineinversetzen und ihn zu verstehen versuchen. In einem zweiten Schritt trägt der Richter den Maßstab des gesunden Menschenverstandes und kriminalpolitische Erwägungen an das Bild des Angeklagten heran und entscheidet, ob eine andere Motivbildung zumutbar gewesen wäre oder nicht. Beide Schritte – die sich nur zu Darstellungszwecken auseinanderhalten lassen – knüpfen an Fähigkeiten des Richters an wie z.B. „Lebenserfahrung“, Teilhabe an den Normen, Werten und Sitten unserer Gesellschaft. Methodisch betrachtet lassen sich diese Prozesse dadurch charakterisieren, daß sie nicht in ein formales Modell einzuordnen, sondern nur nach dem hermeneutischen Modell zu beschreiben wären. (7)
Das derzeitige juristische Verständnis von Schuldfähigkeit läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:
1. Die Beurteilung der Schuldfahigkeit setzt eine Wertung durch den Richter im „normativen Stockwerk“ voraus.
2. Gegenstand dieser Wertung sind Motivationsprozesse beim Tater.
3. Die Beurteilung der Schuldf6higkeit ist eine Entscheidung über die Zumutbarkeit normgerechter Willensbildung.
4. Die Methode und der Maßstab dieses Beurteilungsvorganges sind das Verstehen und der gesunde Menschenverstand des Richters.
Soweit die Theorie. „In der Praxis der Tatsacheninstanzen laufen die Dinge in aller Regel freilich ganz anders: Der Sachverständige stellt die erhebliche (seelisch-geistige) Störung fest und der Richter, falls er hiervon überzeugt ist, bejaht ohne zusatzliche Prüfung die Schuldunfähigkeit. Es ist wohl heute vor deutschen Gerichten kein Fall denkbar, daß sich der Richter vom Vorliegen einer Schizophrenie überzeugt, gleichwohl aber die Einsichts- und Handlungsfähigkeit des Täters bejaht. Eine Divergenz entsteht allenfalls dort, wo der Sachverständige eine bloße Psychopathie aufzeigt und der Richter gleichwohl Schuldunfähigkeit annimmt. Jedenfalls zeigt sich der Richter praktisch dann an das Sachverständigengutachten gebunden, wenn die ’seelische Störung‘ überzeugend bejaht wird. (8)
3. Psychiatrie und Psychoanalyse
Bevor ausführlicher auf den psychologischen Beitrag zur Frage der Schuldfähigkeit eingegangen wird, sollen kurz die entsprechenden Ansätze aus Psychiatrie und Psychoanalyse dargestellt werden. (9)
3.1 Die klassische Psychiatrie
Die Methodik klassisch-psychopathologischer Diagnostik ist zweispurig, parallel der somatologischen verläuft die psychologische Ordnung, neben den naturwissenschaftlichen Methoden der Körpermedizin wird mit Hilfe von Verstehen, bzw. Nichtverstehen diagnostiziert.
Der hierauf aufbauende Krankheitsbegriff ist von diesen zwei Spuren geprägt: Krankheit liegt zum einen vor, wenn körperliche Veränderungen die Gehirntätigkeit beeinträchtigen (körperliche begründbare Psychosen); zum anderen wird durch das Gelingen oder Nichtgelingen des Verstehens über Krankheit oder Abnormität bzw. Gesundheit entschieden. Der letztgenannten Form von Krankheit werden (derzeit noch nicht gefundene) körperliche Ursachen zugeschrieben.
Diesseits (auf unserer Seite) dieser Verstehensgrenze liegt klassisch-psychiatrisch gedacht der Bereich quantitativer Abnormität oder der Spielarten des Durchschnittlichen. Getreu der psychiatrischen Methodologie – es gibt hier keinen körperlichen Befund und nichts Unverständliches – bleibt der klassische Ansatz der Psychiatrie hier theorielos be‑ bleibt schreibend. Es werden lediglich oberflächliche Einteilungsgesichtspunkte („Neurose“, „Psychopathie“, „Triebanomalie“) angeboten, Ordnung und Beschreibung sind aber explizit völlig dem Belieben des Diagnostikers überlassen. In jüngerer Zeit wird dieser Teilbereich der Psychopathologie zunehmend an die Psychoanalyse delegiert.
In foro laßt sich aus diesem Krankheitsbegriff für die Frage der Schuldf6higkeit eine einfache Grundregel ableiten: „Krankhafte Abnormität hebt die Verantwortungsfähigkeit auf; nicht krankhafte Abnormität kann die Verantwortungsfähigkeit nicht aufheben, sondern allenfalls einschränken.“ (10) Diese „einfache Grundregel“ geht im Prinzip auf Schneider zurück, der die Ansicht vertreten hat, die Frage nach der Einsichts- und Steuerungsfyligkeit sei aus psychiatrischer Sicht nur „stillschweigend“ beantwortbar. (11) Wie oben bereits dargelegt, gibt ihm die forensische Praxis hierin recht.
3.2. Die anthropologische Psychiatrie
Auch diesem Ansatz liegt die Methode des Verstehens zugrunde. Anders als im klassisch-psychiatrischen wird aber die „zweite Spur“, die somatologische, aufgegeben und die „Verstehensgrenze“ in ihrer Bedeutung für einen psychiatrischen Krankheitsbegriff aufgehoben durch einen unbegrenzten Verstehensanspruch psychopathologischer Phänomene. Auch in der Frage der Beurteilung der Schwere einer Krankheit unterscheidet sich der anthropologische vom klassisch-psychiatrischen Ansatz: Im Gefolge von Müller-Suur ist immer wieder dargetan worden, daß Kriterien abgrenzbar seien, die es erlauben würden, über die Schwere einer Krankheit theoriespezifische Aussagen zu machen. Die dann ins Feld geführten Kriterien sind jedoch vage formuliert, vieldeutig und ihre Interpretation damit ins Belieben des Diagnostikers gestellt geblieben. Sie kranken außerdem daran, daß sie nicht theoriespezifisch abgeleitet, sondern eher dem gesunden Menschenverstand entliehen sind.
Bezüglich der Frage der Schuldfähigkeit und ihrer Beurteilung durch den Seinswissenschaftler waren Vertreter des anthropologischen Ansatzes zuversichtlicher als ihre klassisch-psychiatrischen Kollegen. Es ist immer wieder behauptet worden, es seien von jenem Ansatz her Kriterien angebbar, die eine sachverständige Stellungnahme zu dieser Frage ermöglichen sollten. Bezüglich dieser Kriterien gilt aber wieder das im letzten Abschnitt Gesagte.
3.3. Psychoanalyse
Das Wesentliche der Psychoanalyse kann nur erfaßt werden, wenn sie als die Theorie der psychoanalytischen Praxis begriffen wird. Ihre charakteristische Methode ist das Verstehen. Zum Zwecke von Diagnostik ist nur ein Teil psycho“analytischer Methodik einsetzbar und in seiner Gültigkeit schwer kontrollierbar. Innerhalb des psychoanalytischen Rahmens wird der Begriff „Diagnose“ überwiegend im Sinne von „Differentialdiagnose“ im Dienste der Indikationsfrage verwandt. Als das sicherste psychoanalytische Diagnostikum gilt eine Probeanalyse. Mit Hilfe der psychoanalytischen Theorie kann keine qualitative Grenze zwischen normalem und abnormem Erleben gezogen werden. Es werden nur graduelle übergänge zwischen seelischer Krankheit und Gesundheit angenommen; alle psychischen Phänomene unterliegen prinzipiell den gleichen Gesetzmäßigkeiten.
Psychoanalytische Gutachter scheinen nach der vorliegenden Literatur die (12) Ansicht zu vertreten, daß sie auf dem Hintergrund ihrer Theorie Aussagen zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit machen könnten. Kriterien werden allerdings nicht angegeben bzw. präzisiert. Der Frage der Schuldfähigkeit nähern sich psychoanalytische Diagnostiker über eine Motivationsanalyse des Angeklagten. Dessen Motivstrukturen werden mit in der Tatsituation aktuellen Anreizen in Verbindung gebracht.
4. Die Psychologie
Beim derzeitigen Erkenntnisstand ist es schwierig, verbindliche Aussagen uber psychologische Diagnostik zu machen. Die Probleme hängen mit dem schier unüberbrückbaren Graben zwischen klinisch-psychologischer Praxis und wissenschaftlich-psychologischer Theorienbildung zusammen.
Ein Schlaglicht auf diese Situation wirft der Erkenntnisstand zum Problem der Anamneseerhebung: auf der einen Seite kommt wohl kaum ein klinisch arbeitender Psychologe ohne eine gründliche Anamnesenerhebung aus, andererseits ist die-se Form der Diagnostik wissenschaftlich-psychologisch praktisch nicht thematisiert, geschweige denn begriffen worden. Eine quantitative Veranschaulichung: In einem Handbuch der klinischen Psychologie mit einem Umfang von 3335 Seiten sind der Anamneseerhebung 21 Seiten gewidmet. (13)
Im Gegensatz zu diesen Vorüberlegungen soll im folgenden jedoch naiv davon ausgegangen werden, daß psychologische Diagnostik als angewandte wissenschaftliche Psychologie begriffen werden kann, daß das Adjektiv ‚psychologisch‘ nicht nur den Gegenstandsbereich, sondern auch die Methode dieser Diagnostik bezeichnet.
Das Selbstverständnis wissenschaftlich arbeitender Psychologen ist derzeit das „nomologischer Wissenschaftler“ , d.h. Psychologische Forscher orientieren sich in ihrer Tätigkeit an den Kriterien kritisch-rationaler bzw. analytischer Wissenschaftstheorie. Sie “ formulieren gesetzesförmige Aussagen von hypothetischem Charakter, betten diese Aussagen in theoretische Begründungszusammenhänge ein, arbeiten an der Formalisierung ihrer Theorien und Modelle, prüfen ihre theoretischen Annahmen mit Hilfe von Erwartungen über möglichst objektive und reliable-Beobachtungs- und Meßergebnisse, unternehmen Erklärungen und Vorhersagen von Ereignissen mittels deduktiver Erklärungs- und Prognose-Modelle oder als induktiv-statistische Ereigniserklärungen und halten das Experiment für ihr wichtigstes Erkennungsmittel.“ (14)
Es war vor allem Westmeyer, der eine diesen wissenschaftlichen Standards entsprechende Logik der Diagnostik entwickelt hat. Danach setzt jede psychologische Diagnostik eine Theorie der Persönlichkeit voraus, durch die zum einen theoretische Konstrukte untereinander und zum anderen theoretische Konstrukte mit beobachtbaren Daten verknüpft werden. Durch Messung bzw. Beobachtung relevanter Daten wird auf die zugrundeliegenden Ursachen des beobachteten Verhaltens geschlossen. (15)
Bereits bei der Abfassung seiner Arbeit hat Westmeyer auf zwei entscheidende Schwachstellen bezüglich der Praxisrelevanz dieses normativen Ansatzes hingewiesen:
1. Die vorliegenden Persönlichkeitstheorien sind noch nicht weit genug entwickelt.
2. Die Verbindung zwischen diesem logisch-formalen Modell und der umgangssprachlich formulierten Ausgangsfrage bleibt problematisch, weil die erforderlichen präzisen Übersetzungsregeln fehlen.
Auf diese beiden Schwachstellen soll im folgenden näher eingegangen werden, weil sie aus der Sicht einer normativen Diagnostik zwar nur Schönheitsfehler darstellen, für den Praktiker jedoch die Anwendbarkeit dieses Ansatzes insgesamt in Frage stellen.
4.1 Der derzeit verfügbare theoretische Hintergrund
Das zur Zeit vorhandene psychologische Wissen auf dem Gebiet der Persönlichkeitstheorie hat sich in den vorliegenden psychometrischen Testverfahren niedergeschlagen. Bezüglich ihres Verhältnisses zum Idealbild einer psychologischen Persönlichkeitstheorie können drei Gruppen von Testverfahren unterschieden werden:
1. ‚Teilbereichstests‘
Testverfahren, die Teilbereiche der Persönlichkeit theoriengeleitet beschreiben und erklären.
2. ‚Beschreibungstests‘
Verfahren, die eine umfassende Persönlichkeitsbeschreibung, aber keine -erklärung liefern.
3. ‚Expertenabkürzungen‘
Verfahren, mit deren Hilfe (meist klinische) Gruppen so getrennt werden können, wie dies vorher Experten getan haben.
ad 1. Diese Testart steht dem wissenschaftlichen Anspruch der Psychologie am nächsten. So liegen z.B. den Tests zur Leistungsmotivation oder zur Introversion-Extraversion tatsächlich Theorien im strengen Sinne zugrunde, wenn sie auch nur für einen sehr eingeschränkten Gegenstandsbereich Geltung beanspruchen dürfen. Dennoch sind auch hier maligne Entwicklungen nicht auszuschließen: Die Diskussion um die sogenannten „Theorien der Intelligenz“ hat z.B. nichts mehr von ‚Theorie‘ übriggelassen: An die Stelle der Theorie ist der Test selbst getreten: „Intellienz ist was der Intelligenztest mißt“ (s.a. 3)
ad 2. Die hierunter gefaßten Tests sind dem sogenannten „Eigenschaftsansatz“ der Persönlichkeit verpflichtet. Sie werden in einschlägigen Werken als ‚Theorien‘ abgehandelt, z.B. Cattels 16 PF oder das Freiburger Persönlichkeitsinventar. Diese Klassifizierung läßt sich jedoch nicht rechtfertigen, da ihnen keine Theorien im strengen Sinne zugrundeliegen. Sie messen vielmehr Dimensionen bzw. Faktoren der Persönlichkeit, die nach Gesichtspunkten größtmöglicher Stabilitat aus einem möglichst umfangreichen Material ausgewählt worden sind. Es entspricht nicht dem üblichen Sprachgebrauch, wenn behauptet wird, aus diesen Dimensionen bzw. Faktoren lasse sich eine Persönlichkeit bzw. ihr Verhalten ‚erklären‘.
ad 3. Dieser Ansatz ist auch unter dem Schlagwort von der sogenannten „Five-easy-questions“ geläufig. Von wissenschaftlichen Ansprüchen her gesehen, stellt er die am meisten entartete Variante psychologischer Diagnostik dar: Psychologie wird auf ihre Methode reduziert, Inhalte sind vollig beliebig und werden psychologisch-theoretisch nicht mehr reflektiert.
4.2. Umgangssprache und Testverfahren
Die wissenschaftlichen Standards tauchen in der Diagnostik in Form der drei Gütekriterien psychologischer Tests: Objektivität, Reliabilität, Validität wieder auf. Das oben bereits angesprochene problematische Verhältnis wissenschaftlich-psychologischen Wissens zur Umgangssprache spiegelt sich vor allem im letztgenannten Kriterium, der Validität, wieder. „Die Validität eines Testes gibt den Grad der Genauigkeit an, mit dem dieser Test dasjenige Persönlichkeitsmerkmal oder diejenige Verhaltensweise, (das, die) er messen soll oder zu messen vorgibt, tatsächlich mißt.“ (16) Praktisch wird dieses Kriterium bedeutsam, wenn es um die Kommunikation mit einem Auftraggeber geht. Dort geht es um Ubersetzungsvorgänge, die (mindestens derzeit) nicht den Anforderungen einer normativen Diagnostik im Sinne Westmeyers genügen. Hartmann unterschiedet fünf solcher Ubersetzungsvorgänge:
„1. Der Diagnostiker muß die umgangssprachlich gestellte Frage des Auftraggebers in die psychologische Fachsprache ubersetzen […]
2. Wenn der Diagnostiker das […] fachpsychologisch einordnen und abgrenzen kann, muß er die so gewonnenen Informationen in Untersuchungshypothesen umsetzen.
3. Die Untersuchungshypothesen selbst müssen operationalisiert werden, d.h. der Diagnostiker muß sich überlegen, anhand welcher Methoden er a) Existenz und Ausprägung des vermuteten Phänomens nachweisen und b) dessen psychodynamische oder sonstige Hinter‑ gründe aufdecken kann.
4. Durch die Untersuchung gewinnt der Diagnostiker Befunde, die in der Sprache des jeweiligen Verfahrens etwa in einer Testsprache, formuliert sind Dieses ‚Testchinesisch‘ muß er in die allgemein psycho‑ logische Fachsprache rückübersetzen.
5. Diese Aussagen müssen aus der psychologischen Fachsprache in die Sprache des Auftraggebers rückübersetzt werden, damit dieser die Antwort auf seine Frage versteht.“ (17)
Zwischen der Ausgangsfrage des Auftraggebers und der Antwort des psychologischen Diagnostikers liegen eine Vielzahl von übersetzungs- bzw. Interpretationsvorgängen, die die Güte des Zusammenhanges zwischen Frage und Antwort bezüglich ihrer Objektivität, ihrer Reliabilität und ihrer Validität erheblich belasten, auch wenn diese Gütekriterien für die Befunderhebung im engeren Sinne mittels Testverfahren gegeben sein sollten.
In der psychologischen Diagnostik 1st der Streit darüber, ob und mit welchem Ergebnis diese Interpretationsvorgänge aus der praktischen Diagnostik zu eliminieren seien, bekannt unter der überschrift: Statistische versus klinische Vorhersage. Eine zusammenfassende Auswertung dieser Kontro‑ verse hat ergeben, daß die statistische Methode der klinischen in den meisten Untersuchungen uberlegen ist.
Dagegen sind von Kritikern jedoch zwei – meines Erachtens gewichtige – Einwände erhoben worden: Zum einen sei in diesen Untersuchungen vorausgesetzt worden, daß sowohl die Eingangsdaten als auch das Kriterium klar spezifiziert und quantifizierbar sein müssen, um die statistische Methode uberhaupt anwenden zu kdnnen; das sei bei vielen klinischen Fragestellungen jedoch nicht der Fall. Zum anderen wurde die Repräsentativität der Untersuchungen in Frage gestellt: „So weist McArthur (1968) darauf hin, daß die Aufgabensituation in den Untersuchungen für den Diagnostiker einerseits trivial sei, andererseits aber keineswegs üblichen klinischen Aufgaben entspreche, in denen der Diagnostiker pro Fall bei der Wahl der Daten und zum Teil auch der Kriterien freie Hand habe. Holt (1958; 1970) kritisiert an diesen Vergleichen, daß dem Kliniker immer weniger Information zur Verfügung stünde als in die meist unter großem Aufwand entwickelte statistische Formel eingehe.“ (18)
Für den psychologischen Diagnostiker zur Frage der Schuldfähigkeit wird die Situation dadurch erschwert, daß das diagnostische Kriterium den größtmöglichen Umfang besitzt und damit nicht operationalisierbar ist. Je nach Interpretation der Frage der Schuldfähigkeit.wird nämlich die Zuordnung zu einer psychopathologischen Klasse und/oder eine umfassene Analyse der MotiyStruktur des Angeklagten verlangt.
Es mag interessant sein, sich einmal zu verdeutlichen, wie eine spezifisch-psychologische Bearbeitung der Frage nach der Schuldfähigkeit auszusehen hätte: In Pawliks Unterscheidung zwischen Modifikations- und Selektionsfragestellungen läßt sich die hier vorliegende eindeutig dem Selektionspol zuordnen. Es wäre von juristischer Seite zu fordern, daß präzise (damit operationalisierbar) angegeben würde, welches der Kriterienkataloge der Persönlichkeitsmerkmale zur Exkulpierung sei und wie hoch die Exkulpierungsrate (eventuell deliktspezifisch) zu sein habe. – Nur mit solchen Vorgaben die aus vielerlei Gründen niemals gegeben werden bestünde für einen Psychologen eine, wenn auch geringe, Hoffnung, sich dieser Frage mit seinen spezifischen Mittelnnähern zu können.
Wenn also Psychologen diagnostisch tätig sind, das Ergebnis ihrer Arbeit aber nicht allein durch die Inhalte erklärt werden kann, die den Anforderungen einer normativen Diagnostik genügen, muß die Frage nach der Qualität des zusätzlich benötigten Wissens gestellt werden.
In Anlehnung an eine Formulierung von Conrad (20) möchte ich dafür den Begriff einer ‚Kennerschaft‘ vorschlagen, um damit sowohl das Wissen selber als auch die Art der Wissensbildung, die hier gemeint sind, hervorzuheben. Es handelt sich um Übersetzungsvorgänge zwischen Umgangs- und psychologischer Fachsprache, die eher den Gesetzen künstlerischer Produktion als denen der formalen Logik genügen und deren Erlernen dem eines Handwerks vergleichbar ist. Westmeyer hat an dieser Stelle (in einem pejorativen Sinne) von „seelenlogischer Kombinatorik“ gesprochen.
Unter besonderer Berücksichtigung der Aufgabenstellung bei der Frage der Schuldfähigkeit drängt sich sogar das Bild des Psychologen als eines Malers oder Dichters auf, der aus vielen zerstreuten, oft widersprüchlichen einzelnen Testergebnissen und Lebenslaufdaten im wahrsten Sinne des Wortes das Bild einer Gesamtpersönlichkeit ‚erschafft‘ und seinem Auftraggeber vermittelt.
4.3. Der psychologische Krankheitsbegriff
Noch vor einigen Jahren wäre es sehr viel einfacher gewesen, den nun folgenden Abschnitt zu schreiben. Es war geradezu ein psychologisches ‚Markenzeichen‘, elle Formen des Krankheitsbegriffs in Frage zu stellen, weil er als unzulässige Ausdehnung des medizinischen Krankheitsverständ‑ nisses auf psychische Erscheinungen begriffen wurde. – Mit dem zunehmenden Eindringen von Psychologen in klinische Tätigkeitsbereiche hat sich das Bild gewandelt. Der Begriff „klinische Psychologie“ beginnt zu einem Namen für ein eigenständiges Gebiet der Psychologie zu werden. Es gibt inzwischen sogar Psychologen, die “ sich opportunistisch auf dieses [das medizinische Krankheitsmodell, E.K.] einlassen und behaupten, die Kompetenz zur Behandlung p scher Krankheiten‘ in weft höherem Maße zu besitzen als die Arzte, denen ja meist eine psychotherapeutische Qualifikation ganz fehlt“ (21) Es ist deshalb notwendig, Aussagen von klinisch-psychologischer Seite in berufspolitisch interessierte und theoretisch begründete zu unterteilen. Die Schnittmenge beider Klassen ist empirisch betrachtet (jedoch nicht notwendig!) klein.
Wenn hier von psychologischer Diagnostik zur Frage des Kranheitsbegriffes die Rede ist, so soll unter „psychologischen Mitteln“ zunächst das in Form von Testverfahren vorliegende Wissen verstanden werden. Auf das Fehlen einer umfassenden und anerkannten Theorie der Persönlichkeit als Hintergrund für eine solche Diagnostik ist oben bereits hingewiesen worden. Es soll an dieser Stelle von der obigen Einteilung der Testverfahren ausgegangen und ihre Implikationen für das Krankheitsverstandnis dargelegt werden.
1. Die oben sogenannten ‚Teilbereichstests‘ erfassen entsprechend eingeschränkte Teile der Persönlichkeit. Bezüge zu einem irgendwie gearteten ‚Krankheitsbegriff‘ werden allenfalls in einem zweiten Schritt hergestellt, wenn vorgegebene klinische Gruppen mit Hilfe solcher Tests untersucht werden. Ein umfassendes Krankheitsmodell findet sich nirgends.
2. ‚Beschreibungstests‘, dem sogenannten Eigenschaftsansatz verpflichtet, versuchen zwar, eine Persönlichkeit vollständig zu erfassen, ihr Erklärungsanspruch wurde jedoch bereits oben bestritten. Auch hier finden sich Bezüge zum Krankheitsbegriff nur sekundär, wenn z.B. typische Profile von klinischen Gruppen beschrieben werden.
3. ‚Expertenabkürzungen‘ heben bereits mit diesem zweiten Schritt an, wenn sie ohne Theorie Testitems nur noch nach ihrer Trennschärfe bezüglich klinischer Gruppen auswählen. Ihr Vorteil gegenüber einem Expertenurteil liegt in ihrer Ökonomie und ihrer Objektivität. In einer typischerweise berufspolitisch motivierten Kontroverse aus jüngerer Zeit ist von klinisch-psychologischer Seite dem Vorwurf entgegengetreten worden, die GesprächspsychWerapie nach Rogers verfüge über kein Krankheitskonzept. (22)
Es soll hier nicht naher darauf eingegangen werden, wie fremd ein ‚Krankheitskonzept‘ neben der Theorie von Rogers (nicht neben den beliebten ‚Variablenstudien‘!) wirkt. Aber auch das behauptete ‚Krankheitskonzept‘ stellt sich bei näherem Hinsehen als eine Einteilung von Klientenattribuierungen heraus, die sich im Verlaufe einer Gesprächspsychotherapie verändern sollen. Demgegenübersollte vom wissenschaftlich-psychologischen Anspruch her darauf bestanden werden, daß die Rede vom ‚Krankheitskonzept‘ mindestens impliziert, daß Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in Form von Krankheitsursache-Symptom-Verbindungen angegeben werden.
4.4. Einsichts- und Steuerungsfahigkeit
Die Einstellung psychologischer Sachverständiger zu ihren Erkenntnismöglichkeiten bezüglich des normativen Stockwerks wird wohl am prägnantesten von Thomae u. Schmidt (24) und von Undeutsch (25) formuliert.
Ihre Aussagen lassen sich in drei Komplexe zerlegen:
- Die Herstellung einer inhaltlichen Verbindung zwischen psychologischem und strafrechtlichem Wissen.
- Der Verweis auf ein psychologisches Handlungsmodell
Die Behauptung, dieses Handlungsmodell erlaube Aussagen zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit.
1. Daß die drei Autoren es nötig haben, erst auf Querverbindungen zwischen psychologischem und strafrechtlichem Denken zu verweisen, illustriert nur die Stellung psychologischer Sachverständiger vor Gericht: Im Gegensatz zu ihren psychiatrischen Kollegen, die sich darauf beschränken können, ihre Kompetenzen zu verteidigen, müssen Psychologen diese erst erobern. Inhaltlich leiden die Ausführungen der drei Autoren jedoch unter einer entscheidenden Schwäche: Ihre Formulierungen lassen durchgehend darauf schließen, daß sie die theoriespezifische Bedeutung von Begriffen nicht in Erwägung ziehen, wenn sie naiv darauf hinweisen, daß in der strafrechtlichen Schuldlehre „psychologische Begriffe“ auftauchen, ohne daß sie den unterschiedlichen Hintergrund berücksichtigen.
Um den Einfluß des unterschiedlichen Hintergrunds zu verdeutlichen, sei ein relevanter Begriff willkürlich herauseriffen: Das Strafecht ist ‚Tat‘-Strafrecht. Aus grundsätzlichen überlegungen hat sich der Gesetzgeber entschlossen, bei der Begrenzung dessen, was strafbar sei, von der Persönlichkeit des Täters abzusehen. Diese wird erst wieder bei der Frage der Strafzumessung eingeführt. Aus psychologischer Sicht ist das schlicht undenkbar oder einfach falsch. Es wäre nun aber ebenso falsch, das Strafrecht deswegen für ‚falsch‘ zu erklären. Der Widerspruch kann nur begriffen – and seine Folgen vielleicht vermieden! – werden, wenn auch die unterschiedlichen Zwecke der psychologischen and der strafrechtlichen Sichtweise reflektiert werden.
2. Alle drei genannten Autoren verweisen in ihren Ausführungen darauf, daß ihnen ein psychologisches Handlungsmodell als Voraussetzung zugrundeliege. So ist z.B, stark vereinfachend von „dem Handlungsmodell der Psychologie“ die Rede, anschließend werden aber ‚Vertreter‘ dieses Handlungsmodells genannt, deren Ansatze von radikal behavioristischen bis zu psychoanalytischen reichen. Der Verdacht, daß das so behauptete, einheitliche Handlungsmodell der Psychologie weder einheitlich noch überhaupt existiert, findet sich bestätigt, wenn dieses Hanlungsmodell nirgends weiter präzisiert wird, sondern im folgenden lediglich Einzelaspekte von Handlungen isoliert abgehandelt werden. Ein Blick auf den neueren Stand der Handlungstheorie macht noch deutlicher, daß diese drei Autoren vorsichtig ausgedrückt – ihrer Zeit etwas voraus geeilt sind.
3. Die Darlegungen von Thomae u. Schmidt sowie Undeutsch sind zunächst mit diesem Fehler behaftet. Die Nichtexistenz des angekündigten Handlungsmodells müßte eigentlich allen weiteren Überlegungen den Boden entziehen. Daß die drei doch weiter reden können, wo sie eigentlich schweigen müßten, hängt mit einem unklaren Methodenbewußtsein zusammen. So verstehen Thomae u. Schmidt die Aufgabe des Sachverständigen zunächst als „Aufforderung zum Vergleich des Gesamtverhaltens und -erlebens des Täters zur Tatzeit mit dem ‚Modell‘ der ’normalen Handlung‘ wie es bei ungestörter Verfassung des Bewußtseins gemäß den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Psychologie erwartet werden kann“, versuchen sich auf der anderen Seite aber gegen Verdächtigungen abzusetzen, es handele sich hierbei methodisch betrachtet um einen „Konglomerat von Mutmaßungen, beweisbare Konstruktionen“. Positive Darlegungen ihrer Methoden lassen aber erkennen, daß es sich letztendlich um nichts anderes als um die eben genannten Vorgänge handelt.
Thomae u. Schmidt ist recht zu geben, wenn sie die Gleichwertigkeit der geschilderten Methode mit dem psychiatrischen Vorgehen behaupten: „Von hieraus ge‑ sehen ist das geschilderte psychologische Vorgehen ‚objektiv‘ wie etwa genauso viel und genauso wenig der Vergleich des gleichen Tatgeschehens mit einem psychiatrischen oder neurologischen Syndrom. Die von Witter und anderen vorgenommene Gegenüberstellung von psychiatrischer Beurteilung des Geisteszustandes (ist gleich ‚objektive‘ Prüfung) und psychologischer Beurteilung (ist gleich ’subjektive‘) verkennt die tatsächliche Situation völlig.“ – Vom psychiatrischen Anspruch her gesehen ist die Einschätzung berechtigt, es handele sich bei der Befunderhebung um ein ‚objektives‘ Vorgehen. Vom wissenschaftlich-psychologischen Anspruch her gesehen ist jedoch dasselbe methodische Vorgehen als ’subjektiv‘ einzuschätzen. Daran ändert auch sprachliche Kosmetik wenig, etwa wenn Thomae u. Schmidt an vielen Stellen Begriffe wie ‚Verhalten‘ oder ‚Verhaltensstil‘ gebrauchen, um die Beobachtbarkeit (und damit Objektivität vom psychologischen Verständnis her) ihrer Methodik hervorzuheben.
5. Beurteilung
Es ist immer wieder behauptet worden, daß es prinzipiell möglich sei, sich den Fragen des ’normativen Stockwerks‘ mit seinswissenschaftlichen Methoden zu nähern. Die Durchsicht von vier Ansätzen hierzu hat ergeben, daß ihr wissenschaftlich-theoretisches Fundament überall – vorsichtig ausgedrückt – als dürftig zu bezeichnen ist. Nach allgemeinen Versicherungen, daß man sehr wohl in der Lage sei, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, folgen überall vage, theoretisch wenig begründete Versuche, sich diesen Problemen zu nahern. Es zeigt sich durchgängig, daß nirgendwo auch nur einigermaßen methodenspezifisch objektive Kriterien angegeben worden sind, die eine Entscheidung bezüglich dem Vorliegen oder Nichtvorliegen von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit begründbar machen würden.
Wenn es dennoch eine Vielzahl von Sachverständigen gibt,. die uberzeugt sind, Aussagen zu dieser Frage machen zu können, so können sie dies nur auf der Grundlage von nichtmethoden-spezifischen Kenntnissen tun. Gerade unter den Sachverständigen gibt as viele, die so häufig und bereits seit so langer Zeit als Gutachter tätig sind, daß ihnen juristisches Denken und juristische Bewertungen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Diese Gutachter sind ohne Zweifel nach der Untersuchung ihres Probanden in der Lage, zu sagen, ob er schuldfähig ‚ist‘, weil sie sich im Laufe ihrer Tätigkeit genug juristisches Wissen, Denken und Werten angeeignet haben, um genauso gerecht oder in manchen Fällen sogar gerechter als ein Richter diese Frage beurtei‑ len zu können. – Insofern der Beruf des Richters erlernbar ist, ist natürlich jeder ‚erfahrene‘ Sachverstandige irgendwann einmal fähig, die Frage der Schuldfähigkeit auch nach juristischen Kriterien zu beurteilen. Daß er dabei aber eine fremde Kennerschaft erworben hat, wird ihm oft nicht genügend bewußt. Es ware hier die Aufgabe des Richters, den Sachverstandigen auf seine methodenspezifische Kompetenz zu verweisen. Der Sachverstandige verletzt namlich “ die ihm gezogenen Grenzen dann, wenn er das Gutachten nicht unter Beschränkung auf die Anwendung seines Fachwissens, sondern unter Mitverwertung allgemWer sein Fachgebiet nicht berührender Umstände erstattet.“ (26)
Geht man von der im Gesetzestext gemeinten, sogenannten „gemischten Methode“ aus, so ist es Aufgabe des Sachverständigen, gegebenenfalls eine Störung bzw. Krankheit zu diagnostizieren und sie einer der vier Störungsgruppen des „psychologischen Stockwerks“ zuzuordnen. Aus den sich daran anschließenden Darlegungen des Sachverständigen über die Rohdaten und die zusammenfassende Klassifikation könnte sich der Richter ein Bild darüber machen, wie es zur Tatzeit im Kopfe des Angeklagten ausgesehen haben könnte. Der Richter hätte dann wertend das „normative Stockwerk“ zu beurteilen, indem er einschätzt, ob dem Angeklagten eine andere Willensbildung zuzumuten gewesen wäre.
Auf die beiden Teilaufgaben des Sachverständigen – Diagnose und Persönlichkeitsbild – warem die vier vorgestellten Ansätze unterschiedlich vorbereitet. Wenn es um die Frage der Diagnose geht, zeigt sich der klassisch-psychiatrische Ansatz überlegen. Seine Methodik ist geradezu auf dieses Ende angelegt. Psychoanalytisch und anthropologisch-psychiatrisch ist eine Diagnostik denkbar, vom Kern der Methoden her gesehen jedoch eher Abfallprodukt als Kondensat methodenspezifischen Wissens. Mit Hilfe psychologischer Diagnostik ist eine Zuweisung zu Störungsgruppen zwar ebenfalls möglich, geschieht in der Forschung jedoch meist erst in einem zweiten Schritt, da im Vordergrund das Interesse an einer Theorie der Persönlichkeit und ihrer Erklärung steht. Vom methodischen Anspruch der Psychologie her vertretbare Klassifikationen lassen sich ausnahmslos als Simulationen fremder Expertenurteile auffassen.
Ein anderes Bild ergibt sich bei der zweiten Aufgabe des Sachverständigen, dem Richter ein Bild von der Persönlichkeit des Angeklagten zu vermitteln. Hier bietet der klassisch-psychiatrische Ansatz im Gegensatz zum anthropologischen, zum psychologischen und psychoanalytischen kaum Anhaltspunkte. Die drei letztgenannten bergen jeweils methodenspezifische Möglichkeiten, Persönlichkeiten und ihre Motivstrukturen zu erfassen.
Wenn in der Praxis die „gemischte Methode“ auf die „psychologische“ verkürzt wird, bedeutet das in foro einen zusätzlichen Entwicklungsvorteil für den klassisch-psychiatrischen Ansatz. Dieser ist bereits durch die Einführung des psychologischen Stockwerks und der damit obligatorischen Zusammenfassung der Erkenntnisse in Form einer Diagnose bevorzugt. Je mehr für Richter diese zum Dreh- und Angelpunkt der Beurteilung der Schuldfähigkeit gemacht wird, desto größer wird die – teils beklagte, teils gewünschte – Macht des Sachverständigen. Richtern verbleibt dann für eine eigenständige Bewertung von Sachverständigenaussagen nur noch die Wahl, entweder selbst psychiatrisches Wissen zu erwerben, weitere Gutachter beizuziehen oder sich dem Urteil des Sachverständigen zu überlassen. (27)
Auch dieser Konflikt dürfte allerdings weitgehend theoretisch sein: Überspitzt ließe sich behaupten, daß Richter ihre Bewertungen bereits vor Beginn des Verfahrens vollziehen, nämlich durch die Auswahl des Sachverständigen.
6. Schluß
Wenn Richter sich dazu entschließen sollten, die „gemischte Methode“ ernst zu nehmen, verstehend Motivationsprozesse beim Täter zu erfassen versuchten und mit ihrem gesunden Menschenverstand eine Entscheidung über die Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens zu treffen bereit waren, könnten ihnen Vertreter der anthropologischen Psychiatrie, der Psychologie and der Psychoanalyse als Sachverständige ein nicht unbeträchtliches Wissen als Grundlage zur Lösung dieses Problems anbieten. Wenn Richter allerdings wie bisher auf einer Klassifikation (Diagnose) als Erkenntnisform beharren, weil ihnen damit „stillschweigend“ (28) eine eigene Bewertung abgenommen wird, sind sie mit Sachverständigen klassisch-psychiatrischer Provenienz bestens bedient.
Anmerkungen
1 Aus dem Institut für forensische Psychiatrie der Freien Universtat Berlin. G.f. Direktor: Prof. Dr. D. Cabanis.
2 Siehe hierzu die Protokolle des entsprechenden Ausschus‑ ses des Deutschen Bundestages: Niederschriften über die Sitzungen der großen Strafrechtskommission, 4. Band.; 12. Band. (Bonn, Bundesdruckerei, 1958; 1959).
3 Sander, F.: Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. (In: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Strafrechtsreform mit arztlichem Einschlag. Bonn, 1958).
4 Entgegen der bis heute gängigen Gegenüberstellung: „bio‑ logisches vs. psychologisches Stockwerk“ sind hier die entsprechenden, sachlich jedoch angemesseneren Bezeichnungen: „psychologisches vs. normatives Stockwerk“ eingesetzt worden.
5 Siehe Schmidhauser, E.: Strafrecht. Allgemeiner Teil 2. Auflage. (Tubingen, Mohr, 1975, S. 380-381).
6 Siehe z.B. Maurach, R.; Zipf, H.: Strafrecht. Allgemeiner Teil, Teilband 1. (Heidelberg, Willer, 1977).
7 Speziell in der Frage der Schuldfahigkeit siehe hierzu Rudolphi, H.J.; Horn, E.; Samson, E.; Schreiber, H.L. Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band I. (Frankfurt/M., Metzger, 1975, S. 161-162); allgemein siehe Esser, J.: Vorverstandnis und Methodenwahl. (Frankfurt/ M., Athenaum,1972); Rottleutner, H.: Richterliches Han‑ deln. (Frankfurt/M., Athenaum, 1979).
8 Schmidhauser (Anm. 5), S. 318. 9 Zusammenfassend sei zu diesem Abschnitt verwiesen auf Glatzel Allgemeine Psychopathologie. (Stuttgart, Enke, 1978).
10 Witter, H.: Die Beurteilung Erwachsener im Strafrecht. (In: H. Göppinger, H. Witter (Hrsg.): Handbuch der forensischen Psychiatrie
11 Berlin u.a., Springer, 1972) op Schneider, K.: Die Beurteilung der Zurechnungsfahigkeit. (Stuttgart, Thieme, 1961, S. 19)
12 Siehe z.B. Ehebald, U.: Patient oder Verbrecher? (Rein‑ bek, Rowolth, 1971); Venzlaff, U.: Aktuelle Probleme der forensischen Psychiatrie. (In: Psychiatrie der Ge‑ genwart III Soziale und angewandte Psychiatrie. Berlin, Springer, 1975).
13 Pongratz, L.J. (Hrsg.): Handbuch der Psychologie, Band 8.1 und 8.2: Klinische Psychologie. (Gottingen, Hogrefe, 1977/78).
14 Herrmann, T. Klett, 1971). Psychologie als Problem. (Stuttgart,
15 Westmeyer, H. hammer, 1972) Logik der Diagnostik. (Stuttgart, Kohl‑
16 Lienert, E.A. Beltz, 1967). Testaufbau und Testanalyse. (Weinheim,
17 Hartmann, H.: Psychologische Diagnostik. Kohlhammer, 1973). (Stuttgart,
18 Leichner, R.: Klinische Urteilsbildung. (In: Pongratz (Anm. 13), S. 1499-1561)
19 Siehe Pawlik, H.: Modell und Praxisdimensionen psycho‑ logischer Diagnostik. (In: H. Pawlik (Hrsg.): Diagnose der Diagnostik. Stuttgart, Klett, 1967).
20 Conrad, K.: Das Problem der „nosologischen Einheit“ in der Psychiatrie. (In: Nervenarzt 30, 1959, S. 488-494).
21 Keupp, H.: Normalitat und Abweichung. (München, Urban & Schwarzenberg, 1979)
22 Minsel, D. (Köln, GwG, 1979). Gutachten zur Gesprachspsychotherapie.
23 Zielke, M. (Stuttgart, Kohlhammer, 1979). Indikation zur Gesprächspsychotherapie. 24 Thomae, H.; Schmidt, H.D.: Psychologische Aspekte der Schuldfahigkeit (im Sinne des § 51 StGB bzw.
24/25 E 1962). (In: U. Undeutsch: Handbuch der Psychologie, Band 11. Forensische Psychologie. Gottingen, Hogrefe, 1967, S. 326-369). 25 Undeutsch, U.: Schuldfahigkeit unter psychologischem Aspekt. (In: G. Eisen (Hrsg.): Handworterbuch der Rechtsmedizin, Band II S. 91-115). Stuttgart, Enke, 1974,
26 Jessnitzer, K. Der gerichtliche Sachverstandige. (Köln, Heymanns, 1980)
27 Siehe hierzu Arbab-Zadeh, A.: Des Richters eigene Sach‑ kunde und das Gutachterproblem im Strafprozeß. (In: Neue Juristische Wochenschrift 23, 1970, S. 1214-1219)
28 Siehe Anmerkung 11