Zur Psychopathologie des digitalen Alltagslebens.
Vortrag auf der „Langen Nacht der Wissenschaften“ in Berlin am 10.5.2014 und am 13.6.2015
Vortrag im Berliner Psychoanalytischen Institut am 14.10.2014
Zur Psychopathologie des digitalen Alltagslebens
Zusammenfassung
Das Eindringen von Algorithmen in unsere Lebenswelt wird aus einer ethno-psychoanalytischen Perspektive untersucht: Welche Erlebnisweisen werden durch Digitalisierung begünstigt? Es sind vor allem narzisstische Prozesse: Anonymisierung und ihre Folgen, Phantasien von Omnipotenz, Diffusion von Körper, Verantwortung, Ort und Zeit. Algorithmen erfassen und kontrollieren, was sich formal beschreiben läßt, alles andere verschwindet aus dieser virtuellen Realität. Wenn eine derart reduzierte Version auf individuelle oder politische Bedürfnisse trifft – etwa Facebook oder die NSA – wird sie vom Mittel zum Zweck und formt ihrerseits die Bedürfnisse von Individuen und Politik.
Einleitung
Als Psychoanalytiker etwas zur PpDA sagen, heißt klinische Konzepte und Sichtweisen auf ein gesellschaftlich-kulturelles Phänomen anwenden.
Wenn ich es mit einem Patienten zu tun hätte, bei dem ich eine anal-narzisstische Abwehr sehen würde, dann würde ich damit ein Bild beschreiben, dass in seinen Beziehungen, in seiner Arbeitswelt und -haltung und auch in den Stunden mir gegenüber Machtfragen eine große Rolle spielen würden, schroffe Gegensätze im Gefühlsleben, Freund-Feind-Unterscheidungen und eine starke Beschäftigung mit sich selber und seinem eigenen Wert auf Kosten von intensiven Beziehungen zu anderen.
Eine zweite Voraussetzung, die ich im klinischen Kontext zur Verfügung hätte, wäre die Unterscheidung in depressive Position und paranoid-schizoide Position von Melanie Klein. Sie versteht darunter einen ständigen Fluss zwischen dem Ertragen von Schuldgefühl, Abhängigkeit und Enttäuschung vs. Vermeiden solcher Gefühle und der entsprechenden Beziehungen, so etwas wie ein Menschenbild der Psychoanalyse in klinischen Begriffen.
Digitales
Diese beiden Zugangsweisen übertrage ich auf die digitale Welt, wie sie Sie und mich umgibt. Im Unterschied zum klinischen Kontext antwortet diese Welt nicht auf meine Deutungen – im besten Fall mit konstruktiver Veränderung – sondern das Kriterium hat ästhetische Qualitäten: Ob Ihnen als Zuhörer das Bild, was ich entwerfe, einleuchtet und Sie es im besten Fall als Bereicherung empfinden, dass Sie Phänomene in neuem Licht sehen oder Zusammenhänge sehen, die Sie vorher nicht gesehen haben.
Das Prinzip
Das Prinzip digitaler Maschinen besteht darin, dass ihr Alphabetnur aus den Buchstaben „0“ oder „1“ besteht. Mit Hilfe dieses einfachst-Alphabets werden komplexe Daten dargestellt und sehr schnell verarbeitet. Die Erfindung des Computers bestand darin, aus vielen solchen „0“-“1“-Elementen sowohl Daten als auch Regeln zu ihrer Verarbeitung darzustellen: Komplexe Daten werdenmit Hilfe von komplexen Regeln – Algorithmen – verarbeitet. Beide – Daten und Algorthmen – bestehen aus mehr oder weniger langen Folgen von „0“ und „1“.
„010101110110010101110010001011000010000001110111011001010110111001101110001000000110100101100011011010000010000001110011011000110110100001110010011010010110010101100101001011000010000001101000111101100111001001110100011001010010000001101101011010010110001101101000001000000110010001100101011011100110111000100000011000010111010101110011001000000110010001100101011100100010000001000101011011100110011101100101011011000000101001001111011100100110010001101110011101010110111001100111011001010110111000111111“
ist die digitale Darstellung von: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“ Ein Algorithmus, der die Buchstaben dieser Verszeile alphabetisch sortiert, würde ähnlich aussehen.
Für alles Weitere ist dieses Prinzip zentral: Dieser Aufbau der Daten und der Algorithmen ist die wesentliche Eigenschaft, die in allen weiteren Eigenschaften wieder erscheint.
Eindeutigkeit
„0“ und „1“ und die aus diesen „Buchstaben“ gebildeten „Wörter“ setzen Eindeutigkeit voraus, damit die Daten erfasst und mit Hilfe von Algorithmen bearbeitet werden können, und sie garantieren wiederum die Eindeutigkeit des Ergebnisses.
Aber: „digitale Wörter“ und Wörter einer lebenden Sprache unterscheiden sich qualitativ: Obwohl die „Wörter“ beider Sprachen als eine Folge von Buchstaben bzw. Zahlen darstellbar sind, lebt die Bedeutung von Wörtern einer natürlichen Sprache von einem menschlichen Kontext und den Beziehungen zu anderen Wörtern dieser Sprache. Diese Bedeutung kann nicht digitalisiertwerden, oder wenn, dann nur unter Verlust an Bedeutung. Es gehört zum Wesen von Wörtern einer lebenden Sprache, dass sie nicht eindeutig sind – „digitale Wörter“ sind eindeutig. Aus diesem Unterschied leitet sich alles ab, was ich im Folgenden beschreibe.
Das Prinzip des Digitalen wird oft im Gegensatz zum „Analogen“ beschrieben. Beispiele dafür sind:
- Der Klang einer Geige ist ein analoges Phänomen. Eine Schallplatte war eine analoge Speicherung und Wiedergabe desKlangs der Geige. Der Klang der Geige kann aber auch aufgenommen, digitalisiert und digital wiedergegeben werden.
- Ein Brief war ein Phänomen aus der analogen Welt. Man könntesagen, eine E-Mail ist eine digitalisierte Form eines Briefes: Sie besteht aus einer Folge von „0“ und „1“, die von Ihrem Email-Programm in Buchstaben übersetzt und lesbar angeordnet wird.
- Zwei Schachspieler spielen sozusagen analog Schach; ein Schach-Computerprogramm gibt Schach-Züge aus, gegen die menschliche Gegner in aller Regel verlieren.
- Eine Dating-Platform vermittelt Partner des passenden Geschlechts – vemutlich „0“ männlich, „1“ weiblich – die nach den Regeln eines Programms, eines Algorithmus passen – oder vermittelt zumindest die entsprechende Illusion. Die analoge Entsprechung ist die Disco, der Hörsaal, die alltägliche Umwelt, in der sich Menschen begegnen.
- Ein Psychoanalytiker und ein Patient sprechen miteinander. Wenn die Stunde elektronisch aufgezeichnet und anschließend auf bestimmten Skalen beurteilt wird, dann entsteht eine digitalisierte psychoanalytische Sitzung.
Die Eindeutigkeit digitaler Buchstaben und Wörter ist die Voraussetzung für die Mächtigkeit des Digitalen. Sie ermöglicht den Einsatz des kompletten Arsenals der Mathematik und der Logik und ermöglicht komplexe Berechnungen, die die geistigen Möglichkeiten von Menschen weit übersteigen.
Transformationen
Um Phänomene digital bearbeiten zu können, besteht die Kunst darin, diese Phänomene in digitale Buchstaben/Wörter zu transformieren, mit Hilfe von Algorithmen zu bearbeiten und dannwieder zurück zu transformieren in eine für Menschen verständliche Form.
In dieser Hinsicht gibt es große Unterschiede, ob und wie sehr diese Transformation das analoge Phänomen verändert oder gar zerstört.
Nehmen Sie Ihren Steuerbescheid: Er sieht zwar etwas sperrig und nicht sehr persönlich aus, aber das würden wir auch nicht erwarten, weil die Zahlen, um die es geht, vermutlich gleich bleiben, egal, ob uns der Beamte handschriftlich schreibt oder elektronisch. Was aber ist mit dem Konzert der Philharmoniker, das perfekt digitalisiert wird und das Sie zu Hause von einer CD hören? In diesem Bereich hat die Digitalisierung bereits erhebliche Spuren hinterlassen: Durch die Möglichkeit, Musik einfach zu kopieren, wird im Moment die gesamte Musikbranche durcheinandergewirbelt. Oder was bedeutet die quasi-Monopol-Stellung von Amazon im Buch-Sektor für die Umwelt von Schriftstellern? Was ist mit der digitalisierten psychoanalytischen Sitzung? Es scheint Unterschiede in der Angemessenheit der digitalen Transformation zu geben.
Relevanz: Der Sog
Der Grund, warum wir uns mit diesen Vorgängen beschäftigen sollten und in letzter Zeit auch vermehrt beschäftigen, ist ihre rasend schnelle Verbreitung und ihr Eindringen in alle Lebensbereiche. Der technische Fortschritt hat die Verbreitung der digitalen Maschinen so sehr beschleunigt, dass es inzwischenunmöglich wird, sich ihrem Einfluss zu entziehen. Nachdem der Computer zunächst die Haushalte erobert hat, trägt inzwischen fast jeder einen Computer in der Hosentasche mit sich herum mit einer Rechenleistung, die vor 70 Jahren noch ein ganzes Gebäude gefüllt hätte.
Die Digitalisierung hat den Charakter eines Selbstläufers angenommen. Der Geist der Digitalisierung strömt ständig aus der Flasche und wird nie wieder dorthin zurückkehren: Jeder Schritt in Richtung neuer Möglichkeiten ist unumkehrbar: Es ist heute schwer, kein Smartphone zu besitzen, keinen Facebook-Account zu haben, keinen Whatsapp-Account; man schließt sich von bestimmten Kommunikationsmöglichkeiten aus.
Die digitalen Maschinen und Medien haben eine riesige Sogwirkung entwickelt, die ständig zunimmt. Diese Sogwirkung beruht auf demPrinzip der Vereinheitlichung, sie ist eine Form von digitaler Globalisiserung: Weil die technische Form der Computer vereinheitlicht wurde, konnten sie in so großen Stückzahlen produziert werden, dass sich jeder einen „Home Computer“ leisten konnte. Weil sich ein einheitliches Betriebssystem durchsetzte, entstanden einheitliche Programme, die auf allen Computern liefen.
Dieser Sog ist sowohl Motor als auch Ergebnis der digitalen Entwicklung. Er lebt von der Kontext-Unabhängigkeit der technischen Geräte, der Daten und Programme. Diese Entwicklung fördert bzw. erzeugt gleichzeitig mehr Kontextunabhängigkeit, indem sie natürliche Kontexte zerstört.
These
Meine These zur Psychopathologie des Digitalen lautet, dass die digitalen Maschinen bedienen, fördern oder erzeugen Phantasien einer anal-narzisstischen Allmacht und Kontrolle, sowie Illusionen von Unabhängigkeit von Beziehungen, Ort und Zeit.
Am Beispiel der Email: Im Gegensatz zur Email behält der Brief stärker den Bezug zur Abhängigkeit der Nachricht von Ort, Zeit und der Beziehung; im handgeschriebenen Fall bleibt der Bezug zuetwas Körperlichem erhalten, auch darüber, dass der Brief ein physischer Gegenstand ist.
Die Digitalisierung bietet, verspricht und fördert einen Gewinn an Allmacht und Kontrolle, in Form von Geschwindigkeit und Verfügbarkeit und Unabhängigkeit von Beziehungen – auf Kosten von Körperlichkeit, des Erlebens von Hindernis und der Erinnerung an Abhängigkeit.
Ich beschreibe jetzt eine Reihe von Phänomenen aus der digitalenWelt, die sich zu diesem Syndrom gestalten.
Phänomen: Tamagochi
Eine wichtige psychologische Voraussetzung in diesem Feld ist die Fähigkeit, Neigung oder sogar der Reflex von Menschen, Dinge und Bewegungen von Figuren zu vermenschlichen.
Einfache Beispiele:
- Obwohl wir wissen, dass Marionetten „nur“ Puppen sind und wir sogar die Stäbe sehen, durch die sie bewegt werden, fühlen wir mit Ihnen und erleben die bewegendsten Dramen, wenn sie sich auf der Bühne bewegen.
- Eines der einfachsten Computerspiele überhaupt – Pacman – besteht aus einfachen Kreisen mit einem Mund, der fressende Bewegungenmacht und den Spieler in einem Labyrinth verfolgt. Die fressenden Kreise werden erlebt wie gefräßige Wesen.
- Ein etwas komplexeres Beispiel war die Sekretärin von Joseph Weizenbaum, die er eines Tages ertappte, wie sie sich heimlich mit „Eliza“ unterhielt. Eliza war ein Algorithmus, der einen Rogers-Therapeuten imitierte, indem er Eingaben umformulierte oder wenn er sie nicht verstand, nachfragte, was der User gemeint hatte. Viele User fühlten sich von dem Algorithmus gut verstanden und obwohl Weizenbaums Sekretärin genau wußte, dass sie mit einem Algorithmus sprach, fühlte sie sich trotzdem verstanden, als ob sie mit einem Rogers-Therapeuten gesprochenhätte.
- Etwas ähnliches waren die Tamagochis, kleine Computer in Spielzeugfiguren, die von Kindern gepflegt werden mussten, auf die Pflege und mit Bedürfnissen reagierten und von den Kindern als lebendige Gegenüber erlebt und behandelt wurden. Im Unterschied zu analogen Kindern hatten sie allerdings einen Reset-Knopf, der sie wieder lebendig machte, wenn sie wegen Vernachlässigung gestorben waren.
- Heute gibt es bereits Roboter-Tiere mit einem gewissen Reaktionsvermögen, das dafür ausreicht, dass sie von älteren Menschen wie Haustiere erlebt und behandelt werden und die dasWohlbefinden dieser Menschen messbar steigern.
Phänomene: Aggression
Es ist eine oft beschriebene Tatsache, dass in Diskussionsforen im Internet regelmäßig Konflikte eskalieren. Die Figur des „Trolls“ gehört zur digitalen Folklore: Menschen, die ihre Aggression in Diskussionsforen austoben und ganze Diskussionen vergiften und letztendlich unmöglich machen. Ein verwandtes Phänomen sind SMS, mit denen Beziehungen beendet werden – wo zumindest die analoge Psyche stutzt oder die Kommunikation für unangemessen hält.
Ein Extrembeispiel in dieser Hinsicht sind Beiträge auf Youtube, in denen junge Mädchen in einem Video sich an die ganze digitale Welt wenden und fragen: „Bin ich hübsch oder häßlich?“ Diese Geschichten scheinen so zu verlaufen, dass viele tröstliche, beruhigende und aufbauende Kommentare geschrieben werden, die wirklich wirksamen sind aber aggressive und verletzende Reaktionen. Es ist sogar ein Fall beschrieben worden, wo sich ein solches Mädchen anschließend umgebracht hat. Ein ähnliches Potential haben Videos von Demütigungen oder zunächst selbst hergestellte und verschickte Nacktaufnahmen von Mädchen, die dann im Internet veröffentlicht oder über Handys weitergereicht werden.
Es ist offensichtlich, dass sämtliche diese Phänomene auch analog vorstellbar sind: Jemand kann in einer Gruppendiskussion aggressiv auftreten und dadurch die Gruppe lähmen oder zwingen, sich mit seinen Beitrag zu beschäftigen anstatt mit der Sache. Jemand kann mit einer Kamera filmen, wie jemand verprügelt wird,und das Video irgendwo vorführen oder Nacktfotos seiner Freundin seinen Freunden zeigen. Jemand könnte lachen, wenn sich ein Mädchen auf den Marktplatz stellt und schreit: „Bin ich hübsch oder häßlich?!“
Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zur digitalen Form: Die praktischen Möglichkeiten für solche Verhaltensweisen sind begrenzt und jeder Beteiligte wäre durch die physische Anwesenheit seiner Gegenüber gehemmt. Es ist der Fortfall dieser Hemmung – oder umgekehrt: die digitale Anonymität – die Aggression freisetzt. Freud hatte diesen Vorgang Triebentmischung genannt: den Prozess der Freisetzung von Aggression, wenn sie nicht mehr durch die Kräfte des Eros gebunden ist.
In einer extremen Form geht es um Aggression im sogenannten „Krieg gegen den Terror“ der USA. Ein Aspekt dieses „Krieges“ ist der Einsatz von Drohnen zur Exekution von Feinden. Im Internet kursiert ein Video von einem solchen Angriff auf eine Gruppe von Menschen aus der Perspektive desjenigen, der den Knopf drückt, der die Rakete auslöst, die diese Menschen tötet. Das Video wirkt wie eine Sequenz aus einem Videospiel, wie es millionenfach täglich gespielt wird. Es erfordert eine Anstrengung an Empathie, zu realisieren, dass dort tatsächlich Menschen sterben und dass nicht irgendwelche Insekten durcheinander laufen, die mit einem Strahl Insektenvernichtungsmittel getötet werden. Es illustriert die Unverwüstlichkeit der menschlichen Fähigkeit zur Empathie, dass einzelne Soldaten, die diese Exekutionen per Drohnen ausgelöst haben, dadurch traumatisiert worden sind. Das digitale Angebot besteht darin, die existentielle Bedeutung des Vorgangs zu verleugnen, zu einem Videospiel zu machen und damit zu entschärfen.
Phänomen: Allmacht im Sinne von Wunscherfüllung ohne Aufschub
Ein weiteres digitales Phänomen ist die Illusion von Verfügbarkeit, psychoanalytisch: Allmacht von Wünschen. SMS, Email, Blogbeitrag sind sofort beim phantasierten Adressaten, ohne die Verzögerung von analogen Mitteilungen. Diese Illusion von Verfügbarkeit wird besonders deutlich in der Wirkung von Dating-Portalen. Es ist nicht mehr die gute, alte Heiratsvermittlerin, die mühsam und persönlich von Hand einen Kontakt herstellt, oder später: die Kontakt-Anzeige irgendwo, die erst gedruckt, dann gefunden und schließlich beantwortet werden muß, sondern es genügt, es sich zu Hause bequem zu machenund sich die Kandidaten und ihre Selbstdarstellungen anzuschauen und dann ebenso in Sekundenschnelle reagieren zu können oder auch selber zu agieren. Die Verfügbarkeit betrifft auch die Anzahl der Kandidaten: Nach jedem kommt der nächste: Warum sollte der nächste nicht noch besser sein, als derjenige, der gerade im Browser angezeigt wird?!
Ins Extreme treibt diese Phantasie eine App für’s Smartphone namens Tinder. Dort werden Kontakt-Suchende aktuell in der räumlichen Nachbarschaft per Foto angezeigt, und die Auswahl geschieht über Nein = wischen nach links, Ja = wischen nach rechts. Wenn zwei ihre Fotos jeweils nach rechts gewischt haben, können sie miteinander Kontakt aufnehmen.
Der Gewinn der digitalen Variante besteht darin, dass das Risikovon Ablehnung minimiert wird; dass die Zahl der Kandidaten groß ist, so dass das Gefühl von Abhängigkeit von einem Gegenüber wegfällt nach dem Motto: „Wenn nicht der, dann eben der nächste!“; und dass Warten unnötig wird.
Auf der Verlust-Seite steht aber: Das entscheidende Gefühl, um das es in der Liebe geht, bleibt: „Der/die ist es!“ Wenn hinter jedem der nächste wartet, ist der Zweifel in der Welt, ob der, der gerade im Browser zu sehen ist, wirklich der Richtige ist. Die große Zahl wird vom Segen zum Fluch: Sie minimiert zwar das Risiko der Zurückweisung, minimiert aber gleichzeitig auch die Bindungskräfte durch eine Form von Zweifel, die dem Grübeln eines Zwangskranken ähnelt. Der zweite Verlust besteht darin, dass gerade das Risiko den Wert der Eroberung steigert, und umgekehrt die risikolose Eroberung entwertet wird, nach dem Motto: Ein geschenkter Gaul kann auch nicht viel wert sein.
Ein Aspekt dieser Dynamik betriftt das Versprechen von unmittelbarer Wunscherfüllung ohne Verzögerung, ohne Aufschub und Warten. Sherry Turkle beschreibt in ihrem Buch „Alone Together“, wie eine Smartphone-Benutzerin heimlich während einerTrauerfeier ihre SMS-Kommunikation erledigt und sich hinterher immerhin noch dafür entschuldigt: Sie habe das Innehalten und Warten einfach nicht ertragen können. Diese Illusion unmittelbarer Befriedigung garantiert jeder Kontakt per SMS: Jeder ist jederzeit ohne Warten erreichbar. Es scheint aber, dass paradoxerweise durch diese Verfügbarkeit das Gegenteil erzeugt wird, ein quälendes Gefühl von Einsamkeit „alone together“, wie Turkle es nennt.
Phänomen: Allmacht Macht
Um ganz handfeste Allmachtsphantasien in einem Kontext von Machtgeht es bei einer Gruppe von anderen Phänomenen. Stellvertretend möchte ich hier ein Projekt von Dirk Helbing, Professor an der ETH Zürich, beschreiben. Helbing hat sich zusammen mit einer großen Zahl weiterer Hochschullehrer aus vielen europäischen Ländern an einem Wettbewerb der EU, dotiert mit einer Milliarde Euro, beteiligt. Sein Projekt: „Future ICT“ hat nicht weniger zum Ziel als die Vorhersage der Zukunft mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnik und ihre Steuerung.
Helbings Future ICT besteht aus drei Bauteilen: dem Planetary Nervous System, dem Living Earth Simulator, und der Global Participatory Platform, das erste Bauteil enthält Detektoren aller Art, die den Zustand der Erde auf allen möglichen Dimensionen anzeigen, das zweite Bauteil kann mit Hilfe dieser Daten vorausschauend berechnen, in welche Zustände die Erde kommen wird – etwa wie eine Wetterkarte vom folgenden Tag, und das dritte Bauteil wartet auf Eingaben der Menschen, die dort ihre Wünsche äußern dürfen. Wenn der Simulator-Computer „Staus“ oder „Probleme“ auf der Erde erkennt, greift er ein und gibt Hinweise, wie die Probleme gelöst werden können. Helbings Qualifikation und das Modell für sein Projekt ist abgeleitet davon, dass er die Regierung von Saudi-Arabien erfolgreich darinberaten hat, die Pilgerströme um den heiligen Schrein in Mekka reibungslos zu gestalten und dass er ebenfalls erfolgreich Modelle zur Steuerung von Autoströmen auf Autobahnen entwickelt hat, um Staus zu vermeiden.
Für mich illustriert dieses Projekt zweierlei: zum einen den Schritt vom Algorithmus zum digitalen Größenwahn – dass Helbing ernsthaft glaubt und andere glauben machen kann, dass sich die Komplexität der ganzen Welt auf Modelle von Pilgerströmen und Autobahnen reduzieren lässt. Zum anderen die Auffassung, die in dem Modell enthalten ist, dass es die Aufgabe von Politk sei, den Status Quo zu erhalten. Darin steckt Wunschdenken von derselben Art, die in die letzte Finanzkrise geführt hat: Dort war das Entsprechende die Annahme in den ökonomischen Modellen der Banken, dass Häuserpreise in den USA nur steigen können.
Die Ansichten von Ray Kurzweil sind denen von Helbing vergleichbar. Kurzweil ist so etwas wie der Prophet des Digitalen. Er behauptet, die Zunahme der Rechenkraft von Computern führe zwangsläufig zu dem Punkt, an dem sie der menschlichen Intelligenz überlegen sein werde. Gegenüber Helbings Ideen hat Kurzweil den Vorteil, dass seine Thesen allgemeiner sind und deswegen weniger den Kontakt mit der Realität fürchten müssen. Vielleicht gerade deswegen haben sie aber eine große Attraktivität für Menschen, die ihre Menschlichkeit und ihre Grenzen möglichst schnell loswerden und an Algorithmen übergeben möchten.
Diese Idealisierung des Digitalen ist ein Groß-Phantasie in diesem Feld: Es gibt Menschen, die die Phantasie von der Übermacht der digitalen Maschinen zu genießen scheinen und sich mit ihrer Macht identifizieren.
Diese Form der Idealisierung scheint mir ähnlich der, die Chasseguet-Smirgel als Spezifikum einer perversen Pathologie beschreibt. Sie schildert den Traum eines Patienten, den sie alsprototypisch pervers versteht. In dem Traum erscheint eine Kotstange, die mit Silberpapier umwickelt und einem realen Penis überlegen ist. Chasseguet-Smirgel versteht den Traum-Wunsch als das Vermeiden von Warten und Wachsen des ödipalen Jungen und eine Kastration des Vaters mit der Behauptung, dieser Kot-Penis sei dem väterlichen Penis überlegen.
Ex Machina von Alex Garland
Phänomen: NSA
Wesentlich handfester aber im Prinzip die selbe Haltung steckt im digitalen Aufmarsch der USA in Gestalt der National Security Agency, NSA, und des britischen Pendants, GCHQ. Der Anspruch der dieser beiden digitalen Geheimdienste besteht darin, weltweit alle Kommunikationsdaten zu erfassen und auszuwerten. Die Idee dahinter sagt, dass es über dieses vollständige Sammeln möglich sei, Terroristen zu finden, bevor sie aktiv werden können. Im zivilen Bereich entspricht dem das Stichwort „Big Data“: die Illusion, als ob mehr Daten automatisch mehr Erkenntnis bedeuten würden. Auch hier handelt es sich um eine anale Phantasie: Also ob die Anhäufung von immer mehr Daten den kreativen Akt in Form einer Idee ersetzen könnten. Die Kreativität wird in die Maschine verlegt.
Es ist bisher kein einziger Fall bekannt geworden, in dem dieserriesige Überwachungsapparat tatsächlich dazu geführt hat, einen Terror-Anschlag zu verhindern. Dass diese Tatsache völlig ignoriert wird, zeigt meines Erachtens, dass wir es hier mit einer Phantasie zu tun haben, die sich von der Realität abgekoppelt hat und eine rein psychologische Funktion erfüllt – sie ist ein Symptom.
Es ist ein weiterer Aspekt dieser Symptomatik, dass die USA im Namen eines „War on Terror“ sämtliche Grund-Überzeugungen zur Disposition stellen: die Achtung der Menschenrechte, die Genfer Konvention, das Völkerrecht. Ich würde die völlig ungezügelte Sammelwut, die Aggressivität und die Selbstgerechtigkeit der NSA verstehen als Symptom eines kollektiven paranoiden Zustands, in dem das Maß für das Gefühl der Bedrohung verloren gegangen ist und umgekehrt die „Maßnahmen“ zum Schutz vor der phantasierten Bedrohung tendenziell diese Bedrohung erst hervorrufen. Nach demKrieg in Afghanistan und im Irak ist die Bedrohung durch islamistische Extremisten größer als vor diesen Kriegen. Die willkürlichen Tötungen von Islamisten mit Hilfe von Drohnenangriffen brechen nicht den Widerstand und den Hass, sondern sie stärken ihn bzw. rufen ihn erst hervor.
Bis zu den Enthüllungen von Edward Snowden hätte vieles von dem, was er jetzt öffentlich gemacht hat, als paranoid gegolten. Jetzt wird deutlich, dass das Digitale auch ein gigantisches Machtinstrument ist. Ein Journalist hat nach Snowden formuliert:„Das Internet ist ein riesiger Überwachungsapparat, mit dem man auch Urlaubsflüge buchen kann!“
Nach Snowden lohnt die Lektüre von „1984“ wieder. Orwell beschreibt dort einen Staat, der einen permanenten Kriegszustandinszeniert; er beschreibt, wie allein die Möglichkeit, dass jede Äußerung jederzeit beobachtet werden kann, zu Hemmung und Selbst-Einschränkungen führt. Die Begrifflichkeit z.B. „War on Terror“ oder „Patriot Act“ erinnern an Orwells „new speak“.
Wird bei Orwell die Anpassung noch durch die Androhung von Gewalt erzwungen, so schildert ein aktueller Roman, wie ganz ähnliche Vorgänge scheinbar freiwillig in Gang gesetzt werden können. Der Roman The Circle von Dave Eggers spielt in einer nahen Zukunft. Er beschreibt, wie eine Politikerin „transparent wird“, „to go transparent“. Das heißt, sie trägt ab sofort ständig eine Kamera und ein Mikrophon am Körper, so dass jeder ihrer Wähler jederzeit live miterleben kann, was und mit wem sie spricht. Sie grenzt sich damit von ihren „nicht transparenten“ Konkurrenten ab, denen Mauschelei und Heimlichtuerei, letzten Endes Betrug ihrer Wähler, unterstellt wird. Das Beispiel dieser Politikerin erzeugt einen solchen Sog, dass in kürzester Zeit kein Politiker mehr „nicht transparent“ sein kann. In dem Roman wird nahegelegt, dass der einzige, der von dieser Transparenz wirklich profitiert, der Über-Konzern, „The Circle“, ist – eine Anspielung auf eine Vereinigung von Google und Facebook. Vor allem Facebooks Geschäftsmodell beteht, dt ja tatsächlich darin, Selbst-Entblößung zu vermarkten.
In einem begrenzten Umfang sind wir bereits auf dem Weg „to go transparent“. Indem wir zulassen, daran mitarbeiten, davon profitieren und zum Komplizen werden, dass wir in digitalen Stoff verwandelt werden, liefern wir einigen, wenigen Konzernen das Futter, mit dem sie ihren Umsatz machen und ihre Macht vergrößern. Die Algorithmen aber, die diesen Modellen zu Grunde liegen, bleiben geheim und unserer Verfügung entzogen. Die Schufa hat gerade eben vor Gericht erstritten, dass sie ihren Bewertungs-Algorithmus nicht offenlegen muß.
Phänomen: Ohnmacht
Es ist erstaunlich, dass jeder weiß, dass die Sicherheitsbehörden offen das Recht in Anspruch nehmen, elementare Grundrechte zu verletzen, ohne heftigere Reaktionen der Betroffenen hervorzurufen.
Eine Erklärung könnte darin liegen, dass an dieser Stelle eine Dynamik herrscht, wie sie bei misshandelten Kindern zu beobachten ist: Dass diese Kinder nämlich die Bilder ihrer Eltern spalten in einen guten und einen bösen Anteil, dass sie den bösen Anteil introjizieren und bei den Eltern verleugnen, um in einem von der Realität abgespaltenen Teil die Illusion von guten Eltern und deren Schutz zu erhalten.
Fast alle Beispiele machen deutlich, dass die Digitalisierung eine eminent politische Dimension gewonnen hat und dass wir auf diese Diskussion überhaupt noch nicht vorbereitet sind. Ich glaube, dass das Eindringen von Algorithmen in den Alltag ein so neuer Vorgang ist, dass wir zur Zeit weder sein Ausmaß noch seine Wirkungen ausreichend begreifen können, geschweige denn, dass wir in der Lage wären, individuell oder gesellschaftliche Regeln zu schaffen, die die Abhängigkeit wieder umdrehen und uns zu den Herren der Algorithmen machen, nicht umgekehrt wie zur Zeit.
Phänomen: Infantilisierung
Es gibt Berichte aus vielen Feldern, in denen Algorithmen zum Einsatz kommen, dass sich der Bereich des Digitalen ausweitet auf Kosten des Analogen.
Flugzeugpiloten beschreiben sich als weniger kompetent, im Notfall eingreifen zu können und die Steuerung eines Flugzeugs zu übernehmen, weil sie sich im Alltag auf ihre Computer verlassen und ihre entsprechenden Fähigkeiten verkümmern. Wenn Sie im Auto ein Navigationsgerät benutzen, dann werden Sie mit der Zeit feststellen, dass Ihre Fähigkeiten, sich mit Hilfe einer Karte zu orientiern, verkümmern. Die Qualität von Fotos nimmt ab, wenn Sie digital fotografieren, weil die analoge Form nur eine begrenzte Anzahl von Bildern gestattete und die wenigen Bilder deshalb sorgfältiger gestaltet wurden. Wenn Sie in einem Museum fotografieren dürfen, wird ihr Eindruck von den Bildern weniger intensiv sein, als wenn Sie nicht fotografiert hätten. Russische Programmierer galten als überlegen, weil ihre Rechenzeit auf russischen Großrechnern knapp war und sie deshalb mehr Denk-Arbeit auf das Schreiben ihrer Programme verwendeten. Untersuchungen haben gezeigt, dass der Lerneffekt von analogen Büchern – richtigen Büchern, zum Anfassen und Blättern – denen von eBooks – die auf einem elektronischen Gerät gelesen wurden -überlegen ist.
Phänomen: Geschlecht
Hier ein ganz kurzer Ausflug ins Gender-Minenfeld: Es ist eine Tatsache, dass Frauen – bisher noch – real pflegen und generell in sozialen Berufen deutlich überrepräsentiert sind, während es weit überwiegend Männer sind, die Pflegeroboter bauen und programmieren. Eine Idee, der ich hier nicht folgen kann, würde sagen, dass auch inhaltlich analoge Kreativität eher einen Bezug zu Weiblichkeit, digitale eher einen Bezug zur Männlichkeit hat.
Phänomen: Sucht
Ein weiteres Phänomen aus dem digitalen Umfeld ist eine Sucht-Dynamik. Suchtartiges Verhalten wird z.B. häufig von Computer-Spielern berichtet, aber auch Internet-Konsum selber wird als Symptom von dieser Art gesehen. Das Phänomen besteht darin, dasses wie bei jeder Sucht sozusagen zwei Perspektiven gibt: In einer wird gesehen, dass das Spielen, der Aufenthalt im Internetschadet, in der anderen Perspektive ist es trotzdem unmöglich, aufzuhören. Am Ende stehen Gefühle von Erschöpfung, Selbst-Ekel und Versagen; trotzdem ist es unmöglich, nicht erneut anzufangen.
User von Facebook beschreiben solche Zustände: dass sie einerseits zwanghaft ihre Facebook-Seite pflegen und viel Energie darin investieren, dass sie andererseits aber vom Ergebnis enttäuscht sind und mit dem Gefühl zurückbleiben, ihre Zeit vertan zu haben.
Eine ähnliche Erfahrung hat Weizenbaum beschrieben, am Fall des zwanghaften Programmierers. Er steht unter dem Zwang, seine Arbeit immer wieder aufs Spiel zu setzen, unter dem Vorwand, sie zu verbessern. Auch er kommt niemals bei einer wirklichen Befriedigung über seine Arbeit an, sondern muß sie immer in einem prekären Zustand halten und bleibt ständig enttäuscht.
Weizenbaum beschreibt hier eine pathologische Form; der „normale“ Programmierer arbeitet anders, gezielter, hört am Endeauch wirklich auf, kann Stolz und Befriedigung über das Ergebnisseiner Arbeit empfinden. Wenn ich aber die Dynamik des zwanghaften Programmierers sozusagen als Symptom digitaler Prozesse verstehe, dann identifiziert sich der zwanghafte Programmierer mit der digitalen Maschine und wiederholt endlos die Zerstörung des analog-Menschlichen; und wiederholt ebenso endlos die Enttäuschung über diese Zerstörung, angesichts der Wahrnehmung, dass mit dem Algorithmus eben die Wirklichkeit gerade nicht erfasst sondern jedesmal verfehlt wird.
Deutung
Wenn ich versuche, die geschilderten Phänomene zusammenzufassen und eine gemeinsame Dynamik zu erfassen, dann „sehe“ ich:
- Digitale Geräte wachsen sozusagen in das Erleben hinein, werden von uns belebt, zu Teilen des Körpers und des Gefühlslebens, bekommen einen menschenähnlichen Status. Der Ethnologin Sherry Turkle gegenüber hat ein Jugendlicher sein Smartphone als Phantom-Glied beschrieben. Andere beschreiben, dass sie sich unvollständig fühlen, wenn ihnen ihr electronic device weggenommen wird. Menschen verfügen über die Fähigkeit, Roboter und Tamagochis wie Menschen oder zumindest wie Tiere oder Kuscheltiere zu erleben. Psychoanalytisch würde man eine solche Beziehung wie die Beziehung zu einem Übergangsobjekt bei einem Kind beschreiben, etwa einem Teddybär, der gleichzeitig die Mutter ist und nicht ist.
- Wie jedes technische Gerät, aber doch in einem wesentlich größeren Ausmaß und auf eine subtilere Weise unterstützen digitale Geräte und Funktionen die Illusion von Allmacht und Kontrolle. Sie fördern den Narzissmus in der Hinsicht, dass sie Unabhängigkeit versprechen oder helfen, reale Abhängigkeit zu verleugnen. Wie in jeder narzisstischen Konstellation mag dahinter die Angst vor der Abhängigkeit drohen, wie der Fall Ray Kurzweil nahelegt: Rechner werden mächtiger sein als Menschen, aber sie werden ein Teil von uns sein, und wir nehmen Teil an ihrer Macht.
- Ein weiterer Aspekt dieser narzisstischen Dynamik ist das prekäre oder neue – je nach dem – Verhältnis zwischen Nähe und Distanz. Algorithmen versprechen, risikoreiche Begegnungen zu ersetzen, wie etwa Tinder oder die Möglichkeit, eine Beziehung per SMS zu beenden, bis hin zum „risikolosen“ Gebrauch von Dating- und Pornografie-Portalen.
- Die tendenzielle Entpersönlichung, die wachsende Distanz undeine Zunahme des Narzissmus im digitalen Raum schwächen die sozial geschaffenen und im Analogen wirksamen Hemmungen der Aggression. Freud hätte das Phänomen als Triebentmischung begriffen: Die Bindungskräfte des Eros sind durch die Anonymität des Internet überfordert, wenn es kein sinnlich erfahrbares Gegenüber mehr gibt.
- In dem Maß, in dem das Bewusstsein für die Abhängigkeit von Menschen schwindet oder verleugnet werden kann, wächst gleichzeitig die Abhängigkeit von der Technik. Dieser Prozess vollzieht sich in großem Maßstab, wenn Piloten im Notfall nicht mehr fliegen können, aber auch im kleinen, wenn wir ohne Navi nicht mehr nach Pankow finden. Dieser Verlust von Fähigkeiten betrifft nicht nur solche Kompetenzen, sondern er erfasst auch die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, eine eigene Position zu erarbeiten und zu behaupten. Psychologisch würde ich von Infantilisierung oder Selbst-Infantilisierung sprechen.
- Schließlich ein letzter Aspekt des digitalen Alltags, dass er verspricht oder tatsächlich ermöglicht, Abhängigkeit zu umgehen eine glatte, widerstandsfreie Welt verspricht – tatsächlich die Illusion von together zu haben – wie Chasseguet Smirgel es für die Perversion und den analen Narzissmus beschreibt.
Insgesamt – mit aller Vorsicht – würde ich zusammenfassen, dass die digitalen Fortschritte mit Melanie Klein gesprochen psychisch eine Entwicklung weg von der depressiven Position hin zu paranoid-schizoiden Erlebnisweisen begünstigen und fördern – aber nicht verursachen: Dieser Versuchung erliegen wir, jeder Einzelne und als ganze Gesellschaft.
Leseempfehlungen
Eggers, D. (2014) The Circle. New York. Knopf
Mendelsohn, D. (2015) The Robots Are Winning! NYRB, June 4, 2015Issue. Her a film directed by Spike Jonze, Ex Machina a film directed by Alex Garland
Orwell, G. (1949) 1984
Segal, H. (1964; dt. 1974) Melanie Klein. Eine Einführung in ihrWerk. Ffm: Fischer
Turkle, S. (2011) Alone Together. Why we expect more form technology and less from each other.New York. Basic Books