1993: Quantitative Psychotherapieforschung – Modernes Paradigma oder Potemkinsches Dorf?
in: Forum der Psychoanalyse (1993) 9:348-366.
Quantitative Psychotherapieforschung – Modernes Paradigma oder Potemkinsches Dorf?
„Mit deutlichem Abstand vor allen anderen Therapieformen kann daher die Verhaltenstherapie für sich in Anspruch nehmen, ihre Wirksamkeit ausreichend unter Beweis gestellt zu haben, um in der psychotherapeutischen Versorgung eine prominente Rolle zu spielen.„ (Grawe 1992a)
„Die meisten Verhaltenstherapeuten neigten dazu, für sich selber tiefenpsychologische oder psychoanalytische Behandlungen zu wählen.“ (Norcross & Prochaska 1983)
Zusammenfassung: In Deutschland ist die Psychoanalyse in jüngster Zeit wissenschafts- und berufspolitisch unter Legitimationsdruck geraten, weil in der Psychotherapieforschung und zunehmend auch von Psychoanalytikern „Wissenschaft“ mit der Anwendung des Methodenkanons der nomologischen Psychologie gleichgesetzt wird. Gegen diese Mode werden zentrale Schwachstellen des nomologischen Paradigmas ausführlich dargestellt. Seine wissenschaftstheoretischen Grundlagen sind äußerst dürftig; sie orientieren sich am – längst überholten – Bild der Physik zu Anfang des Jahrhunderts. Demgegenüber wird auf die zeitgenössische Diskussion „Ursachen“ versus „Gründe“ in der sprachanalytischen Philosophie hingewiesen. Es werden die Fragmentierung der nomologischen Theorie, deren notorisch prekäre Verbindung zur Praxis sowie die Vernachlässigung ethischer Aspekte ausführlich dargestellt. Es wird darauf hingewiesen, daß gerade im Moment Entwicklungen in der nomologischen Psychologie zu erkennen sind, die in Richtung einer Rehabilitierung des psychoanalytischen Zugangs zum Psychischen laufen.
I. Einleitung
Die Frage nach dem Verhältnis von quantitativer Psychotherapieforschung und Psychoanalyse ist keine akademische Frage mehr, seit die Psychoanalyse mit Hilfe von Argumenten, die der Psychotherapieforschung entlehnt sind, aus der psychotherapeutischen Versorgung herausgedrängt wird. An zwei wichtigen Punkten haben in Deutschland in der jüngsten Vergangenheit Argumente dieser Provenienz eine ausschlaggebende Rolle gespielt: Zum einen hat Thomä an einer entscheidenden Stelle kürzlich dargelegt, daß die Effektivität hochfrequenter Psychoanalyse nicht erwiesen sei (Thomä 1991). Zum anderen haben Meyer und seine Mitarbeiter in ihrem Forschungsgutachten (Meyer et al. 1991) behauptet, daß die Verhaltenstherapie allen anderen psychotherapeutischen Verfahren an Effektivität klar überlegen sei; was die Psychoanalyse angehe, so könne ihre Effektivität allenfalls bis zu einer Dauer von 100 Stunden als gesichert gelten. Einer der Mitautoren des Forschungsgutachtens hat in weiteren Veröffentlichungen drastische Veränderungen der Versorgung mit Psychotherapie gefordert – durchweg zuungunsten der Psychoanalyse (Grawe 1992a,b). Und in der Presse sind diese Behauptungen weiter aufgeblasen und polemisch überspitzt wiedergegeben worden (Degen 1992).
Auch wenn man in 40 Jahren über Grawe ähnlich urteilen wird wie Grawe vor kurzem über Eysencks Attacken gegen die Psychoanalyse aus den 50er Jahren:
„Glücklicherweise, so möchte man fast sagen, haben sich Therapeuten und Klienten bisher weitgehend unabhängig von den Ergebnissen der Psychotherapieforschung verhalten. Hätten sie sich wissenschaftsgläubig an Eysencks Behauptungen über den angeblichen Stand der Psychotherapieforschung orientiert, so wäre vielen Menschen die Hilfe versagt geblieben, die sie inzwischen tatsächlich gefunden haben“ (Grawe 1988, 517).
– zunächst einmal sieht die Psychoanalyse sowohl wissenschafts- als auch berufspolitisch schweren Zeiten entgegen.
Was die Lage zusätzlich kompliziert, ist die Tatsache, daß zunehmend auch Psychoanalytiker die Orientierung am nomologischen Paradigma für „zeitgemäß“ erklären (z. B. Thomä & Kächele 1985; Kächele 1992; Meyer 1990). Sie versichern, daß moderne psychoanalytische Forschung nur noch in der Anwendung von quantitativen Methoden bestehen könne. Entsprechend degeneriert ihnen psychoanalytisches Wissen unter der Begrifflichkeit der Einheitswissenschaft zu „Hypothesengenerierung“ einerseits und „technologischem Änderungswissen“ andererseits. „Wahres“ Wissen wird nach diesem Verständnis nur in der Anwendung des nomologischen Methodenkanons gewonnen. Plastisch ausformuliert ist diese Vorstellungswelt im quantitativen Forschungstagtraum:
1992 entwickeln namhafte Psychotherapieforscher in einer Arbeitsgruppe zum Thema „Qualitätssicherung“ im Rahmen einer Tagung der DPV eine gemeinsame Forschungsfantasie: Der Analytiker hat in seiner Armlehne zehn Knöpfe, und nach jeder Stunde drückt er für einige ausgewählte Fragen, wie etwa „Erfolg der Stunde?“ oder „Stimmung des Patienten?“ einen davon. Der skeptische Einwand aus der Gruppe: „Und die Übertragung?!“ wird beschieden: „Auch ein Knopf!“ und schließlich wird bündig festgestellt: „Ein Satz ist ein Knopf.“ Die Signale der Knöpfe sollen in einen Zentral-Computer – es bleibt offen, ob er in Hamburg oder in Ulm stehen soll – transportiert und dort zusammen mit den entsprechenden Signalen des Patienten – von ihm ausgefüllte Fragebogen – gesammelt und ausgewertet werden.
Auf die Frage nach der Anwendung solchen Wissens wird kollektiv weiter taggeträumt: Wenn diese Auswertung über einen längeren Zeitraum eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Signalen des Analytikers und denen des Patienten ergäbe, würde der Auswerter – ein Mathematiker – zum Telefon greifen und den Analytiker fragen, was denn los sei.
Mein Anliegen ist es, gegen den gegenwärtigen Sog in Richtung Psychotherapieforschung daran zu erinnern, daß es ein eigenständiges psychoanalytisches Wissen gibt, das sich nicht auf eine Schwundstufe des Einheitswissens – „N=1-Forschung“ – reduzieren läßt. Von der Psychoanalyse her formuliert: Für Freud war die Psychoanalyse eine Einheit von Wissenschaft, Forschungsmethode und Therapie (Freud 1940); würde die Methode aufgegeben, würden auch Wissenschaft und Therapie preisgegeben (s. a. Zepf & Hartmann 1989, 73 f., Anm. 1). Mit einem Bild von Harrison (1984): Psychoanalytiker würden sich zu häßlichen Entlein machen, wenn sie versuchten, ihrerseits die Physik-Imitation der nomologischen Psychologie zu imitieren. Ich werde zu zeigen versuchen, daß die Psychoanalyse gerade im Moment gute Gründe hätte, ihre Eigenart – was die Forschungsmethode und das Verhältnis dieses Wissens zur Praxis angeht – zu bewahren. Als Belege für diese These werde ich neuere Entwicklungen in der analytischen Philosophie und der nomologischen Psychologie darstellen.
Was hat der Zustand der nomologischen Psychologie mit der Frage nach dem Verhältnis der Psychotherapieforschung zur Psychoanalyse zu tun? Die Bezeichnung „psychoanalytisch orientierter Psychotherapieforscher“ oder Überschriften wie „Psychoanalytische Psychotherapieforschung“ (Kächele 1992) suggerieren, es gäbe zwischen quantitativer Psychotherapieforschung und psychoanalytischer Forschung ein Drittes. Ich halte das für Etikettenschwindel. Psychotherapieforschung, die sich am nomologischen Paradigma orientiert, ist schlicht ein Teilgebiet der nomologischen Psychologie, genauer der klinischen Psychologie, sei es als Effizienzforschung, sei es als Prozeßforschung, auch wenn dabei psychoanalytische Behandlungen zum Forschungsgegenstand gemacht und die psychoanalytische Theorie als Steinbruch zur Hypothesenfindung benutzt werden.
II. Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen
Das Selbstverständnis der Naturwissenschaften, besonders der Biologie und der Physik, des Vorbildes der nomologischen Psychologie, hat sich radikal verändert, ohne daß die Konsequenzen für die nomologische Psychologie hinreichend reflektiert worden sind. Um nur einige Punkte herauszugreifen:
– In der Physik hat sich im atomaren Bereich gezeigt, daß sich die Trennung von Beobachter und Beobachtetem nicht aufrechterhalten läßt, weil die Messung ihrerseits das Meßergebnis beeinflußt. Dagegen hat Grünbaum (1984) noch vor kurzem gemeint, mit dem Hinweis auf die mögliche „Kontaminiertheit“ ihrer Daten der gesamten psychoanalytischen Theorie den Boden entziehen zu können. Devereux (1967) hat das rigide Festhalten an der Illusion, daß das Objekt der psychologischen Forschung von ihrem Subjekt verschieden sei, als Ausdruck von Angst des Forschers vor seinem Gegenüber und vor seiner eigenen Gegenübertragung erklärt.
– Die Vorstellung von einer „Erklärung“ verändert sich in der Physik dramatisch, nachdem die sogenannte „Chaosforschung“ Phänomene mathematisch beschreiben konnte, ohne sie direkt aus den zugrundeliegenden physikalischen oder chemischen Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. In einem Bild aus der Meteorologie: Der Luftwirbel, der durch den Flügelschlag eines Schmetterlings in China ausgelöst wird, kann die Entstehung eines Hurrikans in der Karibik „verursachen“. Diese neue Sichtweise bedeutet den Abschied vom „Laplaceschen Dämon“, der Idee aus der Newtonschen Physik, daß aus der Kenntnis der Anfangsbedingungen das Verhalten jedes geschlossenen Systems exakt vorhersagbar wäre. Damit werden auch die reduktionistische Konnotation des Erklärungsbegriffes und das zentrale Axiom von der strukturellen Identität von Erklärung und Prognose obsolet. Der Begriff der physikalischen Erklärung nähert sich auf eine verblüffende Weise dem in den Geisteswissenschaften wieder an.
– Die Kritik an einem der Eckpfeiler der Einheitswissenschaft, dem Postulat der Wertfreiheit, verschärft sich immer mehr, seit die Folgen des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts nicht mehr ausschließlich als Segnungen wahrgenommen werden, sondern das Bewußtsein dafür wächst, daß die Menschheit diese Art von Fortschritt nur mit Hilfe von drastischen Wertentscheidungen wird überleben können. Zum Beispiel in der Gentechnologie verkommt die Idee einer wertfreien Forschung zum blanken Zynismus.
Die Diskussion der erkenntnistheoretischen Grundlagen des nomologischen Paradigmas wurde in der analytischen Philosophie fortgeführt und differenziert – auch diese Entwicklung ist an der nomologischen Psychologie bisher spurlos vorübergegangen. In der Debatte um den epistemologischen Status von Gründen scheint sich derzeit die Position von Donald Davidson (1980) durchzusetzen. Davidson bezeichnet sich in der Frage, ob das Psychische auf das Physische reduzierbar sei, als „anomalen Monisten“, d. h. er vertritt einerseits einen Monismus – Psychisches und Physisches sind zwei Seiten der gleichen Medaille –, andererseits ist die Beziehung zwischen den beiden anomal – vom Physischen läßt sich nicht gesetzesartig auf das Psychische schließen. Er behauptet entsprechend, daß Gründe in Erklärungen zwar den Status von Ursachen haben, daß dies aber jeweils nur für einzelne Handlungserklärungen gilt, nicht allgemein. Damit wird die Möglichkeit einer nomologischen Psychologie überhaupt in Frage gestellt (Picardi 1990; Kim 1990). Wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll, stimmt sein epistemologischer Befund überraschend gut mit dem empirischen Befund von 100 Jahren nomologischer Erforschung des Psychischen überein.
Davidsons Arbeit Paradoxes of irrationality von 1982 zeigt darüber hinaus überraschende Parallelen zur Freudschen Metapsychologie. Für Davidson setzt jede Erklärung durch Gründe ein komplexes Netz von Überzeugungen voraus, so daß die Annahme von Rationalität beim Handelnden zwingend folgt (s. a. Lanz 1987; Cavell 1991). Indem Davidson versucht, irrationale Handlungen zu analysieren – z. B. Symptomhandlungen oder Fehlleistungen –, gelangt er zu der Annahme von mehreren Rationalitäten unter dem Dach einer Person, die sich widersprechen, untereinander aber nicht sprachförmig, sondern nur als „Ursachen“ kommunizieren können – die sprachanalytische Beschreibung eines unbewußten Konflikts im psychoanalytischen Strukturmodell. Hopkins (1992) zeigt, daß es unmöglich ist, den Gegenstand der Psychologie zu isolieren und auf Variablen zu reduzieren, weil bereits die Beschreibung der zu erklärenden Phänomene nicht sprachunabhängig vorstellbar ist. In diametralem Gegensatz zu Davidsons Auffassungen steht die Behauptung: „Ein Satz ist ein Knopf“ aus dem quantitativen Forschungstagtraum. Sie setzt voraus, daß sich ein Satz auf einen (Zahlen-) Wert reduzieren und dann formal weiterverarbeiten läßt. Ähnliche Vorstellungen sind im logischen Empirismus, einer Variante der analytischen Philosophie, zunächst vertreten, dann aber als wissenschaftstheoretisch unhaltbar aufgegeben worden.
Daß solche Überlegungen für die Forschung relevant sind, zeigt Holzkamp (1986) für die Sozialpsychologie. Er weist nach, daß Annahmen über die Vernünftigkeit von Gründen diejenigen Verhaltenseffekte logisch implizieren, die in den Theorien der nomologischen Sozialpsychologie angesprochen werden. Daraus folgt, daß „die Resultate experimenteller Hypothesenprüfung nicht als empirische Bewährungsfälle, sondern lediglich als ,Anwendungsfälle‘ oder ,Beispielfälle‘ für die übergeordnete Begründungstheorie“ (S. 224) aufgefaßt werden dürfen, daß mithin die im Experiment behauptete Konfrontation mit den Tatsachen den Charakter von „Pseudo-Empirie“ aufweist. Für eine sich empirisch gebärdende Disziplin ist ein solcher Befund katastrophal.
In der klinischen Psychologie kann die exzessive Verwendung von sogenannten „ratern“ bzw. rating-Skalen in der Psychotherapieforschung als Symptom dieses nichtverdauten Problems verstanden werden. Rater werden methodologisch wie physikalische Meßinstrumente behandelt. Ihr Einsatz wurde dadurch erzwungen, daß „objektive“ Maße – das Auszählen von Worthäufigkeiten, Satzlängen, das Messen von Hautwiderstand usf. – sich als unergiebig erwiesen haben; rater beweisen implizit, daß sich auch praktisch die psychologische Empirie dagegen sträubt, als atomisierte behandelt zu werden, sondern daß sie nur als ganze, als komplexes Netz von rationalen Annahmen aufgefaßt, zu sprechen bereit ist – ganz, als ob hier Davidsons Thesen empirisch überprüft worden wären.
Unangekränkelt von allen Zweifeln, als ob die Entwicklung der Wissenschaftstheorie Anfang des Jahrhunderts zu ihrem Ende gekommen wäre, hat in jüngster Zeit Adolf Grünbaum (1984, 1991) die psychoanalytische Forschung von einem logisch-empiristischen Wissenschaftsverständnis her einer vernichtenden Kritik unterzogen. Das Interessanteste an seiner Kritik ist das zustimmende Echo, das Grünbaum bei manchen Psychoanalytikern gefunden hat (z. B. Thomä & Kächele 1985). Wenn man von Schönheitsfehlern absieht – Grünbaum muß z. B. Freud-Zitate in seinem Sinn zurechtbiegen (Naimann 1992), die Entwicklung der psychoanalytischen Technik Anfang des Jahrhunderts für beendet erklären (Strenger 1991) und den alten Hut präsentieren, die Psychoanalyse als Therapie sei nicht wirksamer als die Spontanremission –, so wird doch leicht übersehen, daß Grünbaum selbst sich auf schwankendem Boden bewegt: Sein Verdikt setzt die Geltung seiner speziellen Theorie von Wissenschaft, eines hypothetisch-deduktiven Induktionismus, voraus – bei näherem Hinsehen eine äußerst problematische Voraussetzung (s. Acham 1976; Feyerabend 1992), die auch durch den anmaßenden Ton, in dem sie vorgetragen wird, nicht an Plausibilität gewinnt.
Was leicht übersehen wird, ist die Tatsache, daß die Entscheidung für gerade dieses Modell von Wissenschaft ein rein normativer Schritt ist, der seinerseits durch außerwissenschaftliche Kriterien erst zu legitimieren wäre. An sich handelt es sich um schlichten – wissenschaftlichen – Chauvinismus (Williams 1983; Sandell 1987, 53 f.). In der Philosophie scheint die Zeit der normativ verstandenen „Wissenschaftstheorie“ abgelaufen. Nach Kuhn, Lakatos und Feyerabend sind solche Ansätze wie der von Grünbaum endgültig obsolet. „Wir brauchen Wissenschaftler, die zwei eng verwandte Künste beherrschen: das Allgemeine zu gestalten, indem man es an das Besondere bindet; und das Besondere in allgemeinen Begriffen zu erklären – anders gesagt, wir brauchen eine Ehe von Universalien und Einzeldingen … Aber Philosophen, die die Kontrolle nicht verlieren wollen, haben versucht und versuchen noch immer zu beweisen, daß es sich hier um ein Herr-Knecht-Verhältnis handelt, in dem weise Herren tüchtige, aber ziemlich unwissende Knechte herumstoßen und so die Welt nach ihrem Bild formen“ (Feyerabend 1992, 70).
III. Der Stand der nomologischen Psychologie als Wissenschaft
Wenn die Marschrichtung der psychoanalytischen Forschung tatsächlich die des quantitativen Forschungstagtraums sein sollte – Anschluß an die nomologische Methodik und Trennung von Forschung und Praxis –, dann sollte der Zustand der Wissenschaft, die sich seit Wundt diesem Paradigma verschrieben und es mit erheblichem Aufwand umgesetzt hat, etwas genauer angesehen werden. Ich meine: Ihr Zustand ist seit längerem äußerst desolat. Die Entwicklung der nomologischen Psychologie als Wissenschaft gibt ihren eigenen Vertretern Anlaß zur Sorge, besonders an zwei zentralen Punkten: der Theorie-Fragmentierung und der Kluft zwischen Theorie und Praxis – genau die Bruchstellen übrigens, die nach Davidsons Auffassung zu erwarten wären.
Die Fragmentierung der nomologischen Theorie
Mit „Fragmentierung“ (fragmentation – s. Manicas & Secord 1983; Fowler 1990; Schneider 1990; Mos 1990; Royce 1990; Sechrest 1992 – oder polemischer balkanization, Bevan 1991, 475 oder „Turm von Babel“, Vikis-Freilbergs 1990, 287) beschreiben besorgte Psychologen den Zustand der Theoriebildung in ihrem Fach: In allen Teilgebieten der nomologischen Psychologie existieren unverbunden nebeneinander unzählige Mini-Theorien mit jeweils Mini-Geltungsbereichen, die mit Hilfe von auserlesensten mathematischen Modellen und unter kontrolliertesten Bedingungen überprüft und immer weiter verfeinert werden. Nirgendwo sind auch nur Ansätze von übergreifender Theoriebildung erkennbar.
„Die Psychologie befindet sich in einer kritischen Phase, was ihre Entwicklung als ein zusammenhängendes Theoriegebäude angeht. Diese Krise beruht möglicherweise weniger auf unzureichenden Ergebnissen sondern mehr auf mangelhaftem intellektuellen Charakter. Sicherlich rührt sie – mindestens zum Teil – von der Soziologie, der Psychologie und den ökonomischen Bedingungen des gegenwärtigen akademischen Betriebs her. Obwohl ich immer zu der Überzeugung komme, daß Sigmund Koch (1976, 1981) recht hatte, als er meinte, daß Psychologie keine kohärente Disziplin sei, sondern eine fragmentierte Ansammlung von wissenschaftlichen Untersuchungen, so ist es doch nicht diese Einsicht an sich, die mir Sorgen macht. Mein Bedenken richtet sich vielmehr darauf, daß sich die Psychologie zunehmend darstellt als rasend schnelle Wucherung von eng begrenzten und zwanghaft isolierten Anhängerschaften jeweils einer Richtung, einer Wucherung die anscheinend keine Grenzen kennt. Wir halten zwanghaft daran fest, uns auf kleine Fragestellungen zu konzentrieren anstatt auf übergreifende, und wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Aber dennoch: Das Wissen von Spezialisten kann seinen Sinn nur aus dem Zusammenhang größerer Perspektiven und Fragestellungen beziehen. Wenn es die Verbindung mit diesem übergreifenden Zusammenhang verliert, verliert es seinen inneren Zusammenhang und seinen Sinn“ (Bevan 1991, 475).
Diese Zustandsbeschreibung ist inhaltlich nicht neu. Der von Bevan zitierte Sigmund Koch hatte seine Mahnung, daß die Psychologie nicht über die Methode, sondern über ihren Gegenstand zu definieren sei, bereits seit 1959 immer wieder vorgetragen. Seit die Diagnose „fragmentation“ allgemeiner zur Kenntnis genommen wird und seit die Sorgen um die Einheit der Psychologie gewachsen sind, werden Kochs Thesen – in den USA – neu rezipiert.
Koch (1981) hatte der psychologischen Forschung eine „kognitive Pathologie“ attestiert, die er „das Syndrom des nicht-sinnvollen Denkens“ („The syndrome of ameaningful thinking“; S. 264) taufte. Er meinte damit „eine hochentwickelte Art von kognitiver Beschränktheit, eine Reduzierung von Unsicherheit durch Verleugnung, durch eine Form von falscher Sicherheit, die erreicht wird durch die versteckte Auslöschung alles Problematischen, Komplexen und Subtilen“ (a. a. O.). Man glaube, daß Wissen das automatische Ergebnis der Anwendung einer Forschungsmethode sei; die Objekte der Forschung würden ihre Realität verlieren und zu gesichtslosen Karikaturen gemacht; der Methodenfetischismus trage zwanghafte und magische Züge (S. 259).
Daß Kochs Kritik zum gegenwärtigen Zeitpunkt wiederentdeckt und Reflexionsbedarf gesehen wird, hat verschiedene Gründe. Zum ersten hatte die Reagan-Administration Anfang der 80er Jahre die finanzielle Unterstützung für psychologische Forschung drastisch eingeschränkt, wg. praktischer Irrelevanz ihrer Ergebnisse (s. Bevan 1982, 1314). Zum zweiten hat sich 1988 eine Gruppe von nomologischen Forschern von der APA, der American Psychological Association, abgespalten und die American Psychological Society gegründet, weil sich die Kluft zwischen den Interessen der Forscher und denen der Praktiker nicht mehr hatte überbrücken lassen; mehr dazu im nächsten Abschnitt. Zum dritten üben derzeit zwei neue Forschungsparadigmata – das neurobiologische und das informationstheoretische – einen derartigen Sog aus, daß die Psychologie als Fach sich von ihrer Auflösung bedroht sieht.
„Vor nicht allzulanger Zeit witzelte ein bekannter Entwicklungspsychologe, er wisse nicht, ob seine Abteilung bei seiner Rückkehr aus seinem Forschungsjahr noch existieren werde oder ob sie durch Abteilungen für cognitive science und neuroscience ersetzt worden sei. (Schneider 1990, 522).
Oder: „Es gibt einige, die eine schreckliche Zukunft für die Psychologie voraussehen: Der Exodus unserer besten Wissenschaftler zu anderen Disziplinen und das langsame Verschwinden unserer Wissenschaft; … die Balkanisierung unserer starken, nationalen Vereinigung [die American Psychological Association] in eine Vielzahl von kleineren Gruppen, die sich für ihre speziellen Belange einsetzen, aber nicht mehr für die Psychologie als Ganze.“ (Fowler 1990, 6).
Die psychologische Abteilung des Massachussetts Institute of Technology hat bereits die Schilder gewechselt und firmiert als „Department of Brain and Cognitive Sciences“ (Corbalis 1990, 4).
Die Kluft zwischen Theorie und Praxis in der nomologischen Psychologie
Fowler, der Präsident der APA, stellt 1990 in seiner Ansprache einen direkten Zusammenhang zwischen der Fragmentierung der psychologischen Theorien und der Kluft zwischen der Psychologie als Theorie und ihrer Anwendung her: „The lack of integration within the science of psychology is echoed in the lack of integration between our science and our profession.“ Der Grund für diese Kluft wird einhellig darin gesehen, daß die nomologische Forschung sich nahezu vollständig im Labor verschanzt hat, um dort ungestört von der Realität und jedweder Praxis ihre Methodenorthodoxie zu pflegen:
„Experimental psychologists tend to reduce a given phenomenon to something uninteresting“ (Miller 1986; zit. n. Schneider 1990, 523). „We have too much knowledge about things that do not matter, and too little wisdom about things that do“ (Schneider 1990, 526). Bevan (1991, 477) beklagt, daß Objektivität mit Isolierung von lebendiger Erfahrung verwechselt und daß zu lange verleugnet worden sei, daß Forschung in erster Linie ein menschliches Unternehmen sei. Wexler (1983), ein Sozialpsychologe: Die nomologische Forschung betreibe systematisch die „methodological occlusion of deeper problems in society in the name of science“ (zit. n. Shames 1990, 234 f.). Mixon (1990) formuliert pointiert: Psychologen hätte sich nur mit den Problemen befaßt, die mit ihrer Methodik faßbar waren, wie der Betrunkene, der den Schlüssel unter der Laterne sucht, weil es dort hell ist.
Auch von nomologischen Psychologen wird zunehmend eingeräumt, daß die mangelnde „ökologische Validität“ – so der euphemistische terminus technicus – psychologischer Theorien Anlaß zur Sorge gebe. Kimble (1984) hat gemessen, daß sich Forscher und Praktiker in ihren Wertvorstellungen so deutlich unterscheiden, daß er von zwei „Kulturen“ innerhalb der Psychologie gesprochen hat. Handfeste institutionelle Entwicklungen bestätigen seinen Befund: Wie oben bereits erwähnt, ist die American Psychological Association 1988 an den Spannungen zwischen Forschern und Praktikern zerbrochen, und die Forscher haben ihre eigene Gesellschaft gegründet. Sechrest (1992, 23) deutet diese Entwicklung in einem Rückblick auf die Entwicklung der klinischen Psychologie explizit als Ausdruck eines „weitverbreiteten Unbehagens in diesem Bereich, … weil klinische und angewandte Psychologie mit ihren wissenschaftlichen Grundlagen nicht zu Rande kommen.“
Dasselbe Problem läßt sich in den Vorstellungen zur Ausbildung von klinischen Psychologen feststellen. In den USA hatte es seit 1949 einen Konsens über das Verhältnis zwischen Ausbildung und Berufspraxis gegeben, das sogenannte „Boulder-Modell“, beschlossen auf einer Konferenz der APA in Boulder, Colorado. Es war ein Glaubensbekenntnis zur Wissenschaftlichkeit der psychologischen Praxis und basierte auf der Vorstellung: Praxis ist angewandte Wissenschaft. Logisch konsequent wurden Praktiker zunächst zu nomologischen Wissenschaftlern ausgebildet. Der Verlauf dieses „Experiments“ hat die Hypothese von der Nomologieförmigkeit der psychologischen Praxis gründlich falsifiziert: Ebenfalls Ende der 80er Jahre ist das „Boulder-Modell“ an den nicht überbrückbaren Spannungen zwischen nomologischer Forschung und den Anforderungen praktischpsychologischer Tätigkeit gescheitert (Kanfer 1990; Corbalis 1990).
Bunge (1967) hat sich wissenschaftstheoretisch innerhalb des logisch-empiristischen Zweigs der analytischen Philosophie am differenziertesten mit diesem Problem auseinandergesetzt. Er hat das Problem „gelöst“, indem er einfach eine neue Art von Theorien, nämlich sogenannte „technologische“ eingeführt hat: Diese sind an maximaler Effizienz der aus ihnen abgeleiteten Regeln, Theorien im alten Sinne sind an Wahrheit orientiert. Bunge stellt darüber hinaus fest, daß die beiden Arten von Theorien durch keine logischen Ableitungsregeln verbunden sein können; die neue Sorte muß deswegen den alten nomologischen Prozeduren der Überprüfung unterworfen werden. Bunge hat damit die These aufgegeben, daß die strukturelle Identität von Erklärung und Prognose die Grundlage für die Anwendung wissenschaftlicher Theorien sei. Mit seiner neuen Sprachregelung ist die Ordnung zwar wiederhergestellt, aber um den Preis, daß schon wieder ein Bereich von Wissen aus der Wissenschaft hinausdefiniert werden mußte.
Was der Rückzug der Theorie aus der Praxis in der nomologischen Forschung praktisch und letztendlich bedeutet, illustriert die Geschichte vom neurolinguistischen Programmieren:
Das sogenannte NLP ist entstanden, nachdem zwei Psychologen auf die Idee gekommen waren, drei bekannte Psychotherapeuten (Fritz Perls, Gestalttherapie; Milton Erikson, Hypnotherapie; Virginia Satir, Familientherapie) bei ihrer Arbeit zu beobachten. Gezielt wurde nur ihr äußerlich sichtbares Verhalten erfaßt, ihre Vorstellungen über ihre Ziele, Theorien usf. wurden als unwesentlich vernachlässigt. Aus der Analyse der entsprechenden Tonband und Videoaufzeichnungen wurde „erfolgreiches Psychotherapeutenverhalten“ extrahiert – und angewandt. Weil z. B. festgestellt wurde, daß Therapeut und Klient sich in Atemrythmus und Körperhaltung angleichen, wenn ein guter Kontakt zwischen ihnen besteht, imitieren NLP-Therapeuten Atemrythmus und Körperhaltung ihrer Klienten, um einen guten Kontakt herzustellen (Ulsamer 1985).
Diese Vorstellung von Praxis kommt auch – als ein Beispiel für unzählige ähnliche – zum Ausdruck in der Geschichte von der „männlichen Impotenz aus Mangel an Stickoxid“:
Amerikanische Mediziner haben eine Ursache für männliche Impotenz gefunden. Ihrer jüngsten Erkenntnis ist nach diese Störung auf einen Mangel einer chemischen Verbindung, des Stickoxids, in bestimmten Gehirnteilen zurückzuführen. Stickoxid initiiere im männlichen Körper unter anderem die Prozesse, in deren Verlauf sich das Glied mit Blut fülle und erigiert bleibe. Nach Meinung dieser Forscher ergeben sich daraus neue Behandlungsmethoden (Rajfer et al. 1992).
Womit wohl gemeint ist: Stickoxid-Gaben helfen gegen Impotenz. Und damit wäre tatsächlich ein entscheidender Schritt getan – das Problem ist nämlich so umformuliert worden, daß es einer Lösung (scheinbar) nähergebracht wird: Es besteht jetzt „nur noch“ darin, wie das Stickoxid in der richtigen Dosierung an die richtige Stelle befördert werden kann. Dieser Auffassung von Therapie gegenüber ist die Psychoanalyse in den USA inzwischen bereits völlig in die Defensive geraten.
Und dieselbe technizistische Vorstellung von Anwendung steckt im quantitativen Forschungstagtraum: Der Mathematiker des Projekts kann den Psychoanalytiker auffordern, die „Diskrepanz“, eine Differenz zwischen Meßwerten, zu beseitigen, ohne ihre Bedeutung zu kennen oder gar verstanden zu haben. Geschweige denn, daß damit „gerechnet“ wird, daß solche „Diskrepanzen“ und die Fähigkeit, sie auszuhalten, der entscheidende Beitrag des Analytikers zu einer Behandlung sein können – wie z. B. in der Vignette vom Wutanfall der Analytikerin:
Ein Patient im dritten Jahr seiner Behandlung verfällt plötzlich in ein aggressives Schweigen; er strahlt Wellen von Wut und Haß aus und wirkt wie besessen. Die üblichen Techniken der Analytikerin, mit einem solchen Schweigen umzugehen, versagen völlig, bis sie schließlich selbst so verzweifelt ist wie der Patient. Nach Monaten wird sie eines Tages plötzlich und einfach wütend und schreit den Patienten an, daß sie seinen tödlichen Angriff keine Sekunde länger hinnehmen werde. Dieser Ausbruch wird zu einem Durchbruch im Verlauf der Behandlung und eröffnet den Zugang zu tieferen Ängsten des Patienten (Coltart 1986, 1935).
Was hätte der Mathematiker der Analytikerin in diesen Monaten am Telefon wohl gesagt?! Daß Skurrilitäten wie die Rolle des Mathematikers im quantitativen Forschungstagtraum nicht nur auf die Tagtraumqualität dieser Geschichte zurückzuführen sind, zeigt unfreiwillig Strupp in einer Arbeit aus dem Jahr 1989 mit dem Titel: „Psychotherapie. Kann der Praktiker vom Forscher lernen?“, in der er sich explizit zum Ziel setzt, gegen die Vorbehalte der „Praktiker“ die Anwendungsrelevanz quantitativer Forschung zu demonstrieren. Was kommt dabei heraus?
„Meine Mitarbeiter und ich haben besonders auf die negativen Auswirkungen von Mitteilungen aufmerksam gemacht, die von Patienten als herabsetzend empfunden werden. Wir glauben, daß die Entwicklung von therapeutischen Fähigkeiten, mit der negativen Übertragung des Patienten umzugehen, besondere Aufmerksamkeit in der Ausbildung erhalten sollten.“ (Strupp 1989, 717). Was folgt, ist eine – quantitativ überprüfte – Aufzählung von Selbstverständlichkeiten, die hier nicht vollständig wiederzugeben ist: Empathie sei wichtig; Ratschläge seien ungünstig, manchmal aber notwendig; Jargon sei ungünstig; das Hier-und-Jetzt sei wichtig; der Therapeut solle negative Gegenübertragungsgefühle nicht agieren usf. Eine Liste von Lehren zum Umgang mit der negativen Gegenübertragung aus quantitativen Studien enthält folgende Erkenntnisse: a) abwertende und verwirrende Therapeuten-Äußerungen bewirken schlechte Therapieergebnisse; b) auch geringe Dosen von a) können verheerend wirken; c) auch erfahrene Therapeuten verhalten sich manchmal negativ und d) sollten sich diesbezüglich weiterbilden; e) Therapeuten werden von bestimmten Patienten immer wieder in solche Kommunikationsformen hineingezogen; f) negative Reaktionen des Therapeuten sind nicht zu vermeiden; sie sollten durch Aufmerksamkeit minimiert werden (Strupp 1989, 722).
Zu der wirklich relevanten Frage, wie die negative Gegenübertragung erkannt und „minimiert“ werden soll, schweigt sich Strupp aus und bestätigt damit den Vorbehalt, den er eigentlich entkräften will: „Psychotherapeutische Praktiker, besonders psychodynamisch orientierte, haben immer wieder beklagt, daß sie wenig von der Psychotherapieforschung lernen können“ (Strupp 1989, 717).
Auch Strupp kommt nicht auf die Idee, daß mit seiner Vorstellung von der Rollenverteilung zwischen Forscher und Praktiker grundsätzlich etwas nicht stimmen könnte; ähnlich Grawe, der zwar sieht, daß es an der Zeit sei, „die Tatsache, daß es ein gravierendes Transferproblem zwischen Psychotherapieforschung und Psychotherapiepraxis gibt, wirklich als Problem ernstzunehmen“ (Grawe 1992a, 156), dem dazu aber nicht mehr einfällt als Verunglimpfungen und Pläne zur Zwangs-Bekehrung der uneinsichtigen Praktiker.
Daß mit der nomologisch-psychologischen Forschung und ihrem Verhältnis zur Anwendung etwas im Argen liegt, läßt sich auch an den traditionellen Berichten Zur Lage der Psychologie ablesen, die die scheidenden Vorsitzenden der DGPs (Deutsche Gesellschaft für Psychologie) seit 1970 alle zwei Jahre anläßlich der Tagungen ihrer Gesellschaft gegeben haben. Die Kluft zwischen Forschung und Praxis hat in diesen Reden ihren festen Platz, die Reden unterscheiden sich nur bezüglich der Relevanz, die sie dieser Tatsache zubilligen. Das differenzierteste Statement stammt von Kornadt (1985):
Kornadt stellt in seinem Bericht von 1985 fest, daß sich in der Psychologie keine angewandte Forschung entwickelt hat wie z. B. parallel zur Physik die Ingenieurwissenschaften. Am Beispiel der Entwicklung eines Dynamos demonstriert Kornadt die qualitativen Unterschiede im Gegenstand von Naturwissenschaften und Psychologie: „Die unmittelbare Anwendung von Grundlagenforschungs-Ergebnissen auf praktische Probleme ist gerade in der Psychologie unzulänglich, und das ist hier anders als in den Naturwissenschaften. Man kann z. B. in Anwendung begrenzter physikalischer Gesetze eine Maschine, sagen wir einen Dynamo bauen, der funktioniert, auch wenn vielleicht anfangs mit geringem Wirkungsgrad. Das ist aber kein Vorbild für die Psychologie. Mit der Anwendung einer Technologie, die etwa streng auf Konditionierungsgesetzen beruhte, würden wir ja keinen Apparat bauen. Wir haben immer das komplexe Gesamtgefüge der Persönlichkeit mit ihren Vernetzungen in das soziale Handlungsnetz vor uns, in dem neben Konditionierungs- viele andere Vorgänge ablaufen. Greifen wir mit einer Technologie nur an einer Stelle ein, so verändern wir dennoch das Gesamtsystem. Die übrigen, von der Theorie erfaßten Bereiche können daher nicht ungestraft vernachlässigt werden. Angewandte Forschung müßte von vorneherein von der Komplexität des Problemfeldes ausgehen, wie sie der vorwissenschaftlichen Erfahrung entspricht. Ich kann mir keinen erfahrenen Lehrer vorstellen, der von sich aus eine Skinnersche Lernmaschine erfunden hätte“ (S. 9 f.).
Das Problem ist uralt: In der Medizin tritt mit Empedokles der erste „Theoretiker“ auf den Plan: Er geht von den vier Elementen aus – bei ihm abstrakte Wesenheiten, nicht konkrete Substanzen – und definiert Krankheit als Ungleichgewicht zwischen diesen vier Elementen. Die Bedenken der Praktiker, wie sie in Hippokrates’ Kritik an den Theoretikern formuliert werden, bringen den Konflikt zwischen Psychotherapieforschung und Psychotherapieanwendung auf den Punkt:
„Ich weiß aber wirklich nicht, wie eigentlich die, die jene Lehre vertreten, und die ärztliche Kunst … von der von mir beschriebenen Methode weg auf den Weg der Hypothese führen, die Menschen nun im Sinne ihrer Hypothesen behandeln wollen. Denn ich glaube, sie haben doch nicht ein Warmes oder ein Kaltes, ein Trockenes oder Feuchtes entdeckt, das für sich allein steht und mit keiner anderen Form Gemeinschaft hat; vielmehr meine ich, es stehen ihnen dieselben Speisen und Getränke zur Verfügung, derer wir uns alle bedienen. Sie legen aber dem einen die Qualität des Warmen, dem anderen die des Kalten, dem dritten die des Trockenen, dem vierten die des Feuchten bei. Denn es ist ja unmöglich, dem Kranken zu verordnen, er solle etwas Warmes zu sich nehmen. Dann wird er nämlich gleich fragen: ,Was denn?‘, und man muß entweder allgemeine Redensarten machen oder seine Zuflucht zu einem vertrauten Nahrungsmittel nehmen“ (zit. n. Feyerabend 1992, 68).
IV. Beide Krisen – Theorie- und Theorie-Praxis-Krise – sind Folgen der Methoden-Orthodoxie der nomologischen Psychologie
Die Ansichten über die Gründe für diesen Zustand der nomologischen Psychologie als Wissenschaft und die Kur zu seiner Heilung gehen natürlich weit auseinander. Aber eine nicht geringe und stetig wachsende Zahl von Psychologen sieht das Problem in der methodisch völlig einseitigen Ausrichtung der nomologischen Psychologie.
„Selbstverständlich gab es de facto auch eine methodologische Spezialisierung in der Art, daß das sorgfältig kontrollierte experimentelle Paradigma ein Synomym für Forschung überhaupt war. Dieses Pardigma erwies sich als weniger und weniger effizient, je mehr man sich von Fragestellungen entfernte, die unter idealen Laborbedingungen untersucht werden konnten; und es erzeugte eine überwältigende Eleganz auf Kosten der Sinnhaftigkeit. Es machte die Disziplin [Psychologie] zu einem scheinbaren Gefangenen des linearen Denkens in einer in Wirklichkeit nicht-linearen Welt.“ (Schneider 1990, 524).
„Beide, das Modell von Wissenschaft und die zugehörige Metaphysik, bleiben vereinfachend, wenn nicht schlicht [simple-minded]. Obwohl die kognitve Revolution groß herausgestellt wird, bleiben wir störrisch reduktionistisch und mechanistisch in der Art, wie es die Physik vor dem Erscheinen der Relativitätstheorie war. Schauen Sie genau hin, und Sie werden immer noch eine Maschine – heutzutage einen vielseitigen Computer – im Inneren des Geistes sehen. Wir sind immer noch, wie Stephen Toulmin 1972 gezeigt hat, eine „Möchte-gerne-Disziplin“. (Bevan 1991, 476).
Shames (1990, 230) spricht von „Methodolatrie“, in der er die nomologische Psychologie gefangen sieht.
„Beinahe überall setzen Psychologen weiterhin statistische Signifikanz mit Bedeutung gleich, obwohl es inzwischen kaum mehr ein Geheimnis ist, daß eine Stichprobe, die groß genug ist, mit Sicherheit statistische Signifikanz gewährleistet.“ (Mixon 1990, 100).
„Dies alles drückt eine bestimmte Vorstellung von Psychologie aus, die wissenschaftliche Forschung als ein mechanisches Vorgehen auffaßt, mißtrauisch dem Denken gegenüber, sei es als Vernunft oder Theorie. Es geht von einer Psychologie des Anderen aus, in deren Rahmen dieser Andere nur als Produkt irgendwelcher kausaler Vorgänge erfahren wird, die wir mit Hilfe unserer Methoden bestimmen können.“ (Mos 1990, 281).
Die nomologischen Lösungsversuche für die von allen Seiten registrierte Kluft zwischen Forschung und Praxis in der nomologischen Psychologie sind ihrerseits äußerst aufschlußreich.
Der weitaus überwiegende Teil der akademischen Psychologen-Beamten forscht weiter, als wäre nichts geschehen; das – vermeintlich; s. Holzkamp 1989; Searle 1992 – neue Paradigma der „cognitive science“ oder das neurobiologische werden benutzt, um die alten Illusionen am Leben zu erhalten; es wird überwiegend nach dem Motto: „Mehr vom Gleichen!“ verfahren. Es wird die Argumentation bemüht, daß Grundlagenforschung zunächst nie praxisrelevant sei und gerade dieses zweckfreie Suchen der beste Garant für künftige Relevanz sei.
Zu den „Lösungsversuchen“ gehören natürlich auch die oben beschriebenen institutionellen, d. h. der Rückzug ins Labor, teilweise ernsthaft mit der Vorstellung, die Praxis so lange einzustellen, bis die Grundlagenforschung relevante Ergebnisse vorzuweisen habe (Albee 1970, 1076; Feger 1977).
Wirklich praktisch denken Meyer et al. (1991): Unter der Überschrift „Qualitätssicherung“ spendieren sie sich in ihrem „Forschungsgutachten“ gleich beides: Forschungsgelder aus den Töpfen der Sozialversicherung und zwangsverpflichtete Forschungsobjekte, auf deren freiwillige Kooperation sie nicht ohne weiteres rechnen können. Vom gleichen Kaliber der Vorschlag von Schulte (1992): Gegen die naheliegende – und für Hochschullehrer bedrohliche – Idee: „Wenn das Erlernen der wissenschaftlichen Basis nur lästig und letztendlich überflüssig ist, warum dann eigentlich ein Psychologiestudium als Voraussetzung [für den Beruf des psychologischen Psychotherapeuten]?“ rät Schulte, das Psychologiestudium einfach juristisch zum Bestandteil der Psychotherapeutenausbildung zu erklären. Ebenso Dahme in ihrer Stellungnahme im Namen der DGPs zum „Psychotherapeutengesetz“: Die Kooperation von privaten Ausbildungsinstituten mit und ergänzender Unterricht an den Universitäten sei gesetzlich vorzuschreiben (Dahme 1992, 116).
Die Devise „Mehr vom Gleichen!“ ist allerdings nicht mehr ganz unumstritten. Unter dem Druck der Theorie-Krise und der Theorie-Praxis-Krise weicht der Methoden-Monismus der nomologischen Psychologie zunehmend auf. In neueren Überlegungen zum Theorie-Praxis-Verhältnis werden die qualitativen Unterschiede zwischen praktischem und theoretischem Wissen reflektiert und gleichberechtigte Modelle diskutiert (Manicas & Secord 1983). Gleichzeitig werden hermeneutische und introspektive Zugangsweisen vorsichtig rehabilitiert (Bevan 1991; Shames 1990). Royce (1983, 503) hat die erforderlichen Schritte vor zehn Jahren so zusammengefaßt:
„Der einzige Weg, diesen traurigen Zustand [der Psychologie als Wissenschaft] zu überwinden, besteht darin, die Uhr zurückzudrehen und die ,philosophische Verdauungsphase‘ nachzuholen. Das würde bedeuten (1) ein Moratorium für die gegenwärtigen (pseudo-) wissenschaftlichen Aktivitäten und (2) eine gründliche begriffliche Analyse dessen, was unter mentalen Vorgängen [mind] verstanden werden soll. Das wäre ein kritischer Schritt, denn er würde schöpferische Ideen erzeugen – nämlich Begriffe, die die Grundlage für eine authentische psychologische Wissenschaft, eine Wissenschaft von mentalen Vorgängen bilden würde.“
V. Zur Situation in der klinischen Psychologie und Psychotherapieforschung
Die sogenannte Prozeßforschung
Die oben für die nomologische Psychologie allgemein beschriebenen Probleme lassen sich in jedem ihrer Teilgebiete nachweisen, so auch in der klinischen Psychologie. In der sogenannten „Prozeßforschung“ wird zur Zeit das „generic modell of psychotherapy“ von Orlinsky & Howard (1986) vielgepriesen (z. B. Grawe 1992a; Kächele 1992). Nach Grawe ist es „das erste empirisch fundierte allgemeine Modell der Wirkungsweise von Psychotherapie“; es sei ein bedeutender Fortschritt insofern, „als es deutlich macht, daß man sich die Wirkungsweise von Psychotherapie grundsätzlich in Form eines Musters mehrer miteinander in funktionaler Wechselwirkung stehender Einflußfaktoren auf das Therapieergebnis vorzustellen hat … es ist eine Warnung vor zu einfach angelegten Untersuchungen zu den Wirkfaktoren der Psychotherapie“ (Grawe, a. a. O.). Näheres Hinsehen zeigt allerdings, daß dieses Modell schlicht auf der additiven Aneinanderreihung von Ergebnissen von Einzelstudien basiert. Die Berücksichtigung der „funktionalen Wechselwirkung“ drückt sich lediglich darin aus, daß in der graphischen Darstellung alles mit allem mit hübschen kleinen Pfeilchen verbunden ist. Die Grundannahmen sind die altbekannten: Das Modell bleibt am Vorbild der Ingenieurwissenschaft orientiert, als gelte es einen Dynamo zu bauen; es folgt „der überwunden geglaubten Logik des Taylorismus, erfolgreiches Arbeitshandeln aus seinen (meßbaren) Einzelbestandteilen ableiten zu können“ (Legewie & Klotter 1993). Das Modell von Orlinsky & Howard veranschaulicht also für die klinische Psychologie genau den oben beschriebenen Befund: Fragmentierung.
Was von Orlinsky & Howard und von Grawe verbal eingeräumt und als der Fortschritt verkauft wird, ist die längst überfällige Anerkennung der Komplexität des Forschungsgegenstandes. Daß jetzt allerdings der große „qualitative Sprung“ bevorsteht, ist wenig mehr als eine trockene Versicherung; daß sie erfüllt wird, darf bezweifelt werden. Auf der Methodenebene hat die Komplexität des Gegenstandes bereits Konsequenzen erzwungen: Zum ersten hat sich die Psychotherapieforschung inzwischen intensiv Einzelfallstudien zugewandt (Grawe 1992a, 154 f.). Zweitens wird gesehen, daß ein Aufreihen von Korrelationen der Komplexität von Veränderungsprozessen nicht gerecht wird (ebda.). Wenn aber vorgeschlagen wird, stattdessen „Muster“ zu analysieren (ebda.), dann drückt sich darin eher Hilflosigkeit aus. Drittens wären hier die bereits erwähnten „rater“ zu nennen. Wenn sich die klinische Psychologie auf physikalisch Meßbares beschränken würde, wäre sie sofort am Ende – siehe Behaviorismus, der inzwischen auf der ganzen Linie gescheitert ist. „Rater“ verarbeiten komplexe, wesentlich ganzheitliche Daten, die sich der Zerlegung in ihre physikalischen Atome widersetzen. Diese „Rater“ werden aber methodologisch mit Zollstöcken gleichgesetzt, weil sie Zahlen ausscheiden. Mit Hilfe dieses Tricks wird die Illusion aufrechterhalten, daß die Komplexität seelischen Geschehens mit physikartigen Mitteln zu greifen sei.
Die sogenannte Effizienzforschung
Was die Effizienzforschung angeht, so wird deren ganze Fragwürdigkeit schlaglichtartig in den Geschichten von Prochaska und Norcross deutlich:
Wenn Verhaltenstherapeuten für sich selbst eine Behandlung suchen würden, dann, so haben Prochaska und Norcross gemessen, würden sie zu 5,9% eine Verhaltenstherapie, zu 14,7% eine Psychoanalyse, zu 35,3% eine psychodynamische, zu 14,7% eine nach Sullivan, zu 11,8 eine humanistische und zu 5,9% eine eklektische Form von Psychotherapie wählen (Prochaska & Norcross 1983; Norcross & Prochaska 1984).
Dieser Befund stellt nach meinem Erachten das stärkste Argument gegen die von Grawe in jüngster Zeit forciert vertretene Behauptung von der Überlegenheit der Verhaltenstherapie dar. Prochaska & Norcross vermuten, daß Verhaltenstherapeuten für ihre Klienten andere Therapieziele setzen als für sich selbst; die einen halten sie für besser mit Verhaltenstherapie, die anderen für besser mit psychodynamischen, psychoanalytischen und anderen nichtbehavioralen Methoden erreichbar. Und das ist des Pudels Kern: Es geht bei individuellen Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Form von Psychotherapie in Wirklichkeit nicht in erster Linie um Effizienz, sondern um eine Entscheidung für die Therapieziele, die mit dieser Form von Psychotherapie verbunden sind.
Wenn die Vorstellungen der nomologischen Psychotherapieforscher tatsächlich umgesetzt würden, dann hätten wir nicht nur die Apparate-Medizin, sondern auch die „Apparate-Psychologie“ (Legewie & Klotter 1993). Die Effizienzforschung gebärdet sich, als ob ihre Zielvorstellungen fraglos verallgemeinerbar wären; dadurch werden ethische Probleme verschleiert und „Schematismus und unreflektierte Expertenherrschaft“ (ebda.; s. a. Mixon 1990) sind die Folge. Es ist diese – der nomologischen Psychologie und der Verhaltenstherapie gemeinsame – unreflektierte Vorstellung von technischer Verfügung, die diese Art der Forschung und die Verhaltenstherapie derart kompatibel macht und letztendlich die „Befunde“ von der überlegenen Effizienz der verhaltenstherapeutischen Methoden verursacht.
Ethische Aspekte der Forschung
Von psychoanalytischer Seite wird diese ethische Dimension zunehmend zur Kenntnis genommen. Mit der These: „Die Psychoanalyse ist eine Naturwissenschaft“ galt lange Zeit auch die Folgerung, daß Psychoanalyse sowohl als Theorie als auch als Therapie wertfrei sei; mit Werten habe sie nur insofern zu tun, als deren Entstehung psychoanalytisch erklärt werden könne (Hartmann 1960). Gegenwärtig ist in psychoanalytischen Publikationen eine Zunahme von Arbeiten festzustellen, die sich mit ethischen Aspekten auseinandersetzen (Wallwork 1991; s. a. Heft 12 (4), 1992, des Psychoanalytic Inquiry). Strenger (1991, 145 f.) faßt seine Darstellung des ethischen Aspekts der Psychoanalyse so zusammen:
„Ein großer Anteil der Grundlagen für den psychoanalytischen Zugang zur Psychotherapie ist letztendlich ethischer Natur. Er ist darin einzigartig, daß er die Autonomie und die Wahrhaftigkeit des Patienten als oberste Werte ansieht. Im Grunde setzt die psychoanalytische Sichtweise psychische Gesundheit mit Wahrhaftigkeit und innerer Freiheit, psychische Krankheit mit Selbsttäuschung und Getriebenheit gleich … Eine der wichtigsten Grundlagen der psychoanalytischen Methode ist mit einer Weltanschauung verbunden, einer philosophischen Sicht der menschlichen Natur und Existenz. Die Vorstellung ist, daß nicht alles bezüglich der Wahl der Therapiemethode rein pragmatischer Natur ist. Die Tendenz der Psychotherapieforschung geht dahin, die Therapieziele als gegeben anzunehmen und lediglich herauszufinden, welches die besten Mittel sind, diese Ziele zu erreichen. Meine Überlegungen gehen in die entgegengesetzte Richtung.“
Die Diskussion um die Effizienz der psychotherapeutischen Verfahren in Deutschland seit dem „Forschungsgutachten“
Zu Grawe, der in jüngster Zeit mit seiner „Metaanalyse“ besonders viel Politik gemacht hat, noch einige Bemerkungen. Genau wie das Modell von Howard & Orlinsky für die Prozeßforschung zeigt die Metaanalyse für die Effizienzforschung, wie stereotyp und konzeptionslos auf die Fragmentierung der nomologischen Psychologie reagiert wird: Hunderte von Studien zur Effizienz von Psychotherapie sind nicht mehr überschaubar; also wird ausgelesen, welche überhaupt berücksichtigt werden; den ausgewählten werden Zahlen zugeordnet; die werden addiert und durch die Anzahl dividiert; herauskommt: die Effektstärke. Daß hinter jeder Zahl eine andere Theorie, andere Vorstellungen von Effizienz, andere Patienten, andere Störungen, andere Therapeuten usf. stehen, verschwindet in den geduldigen Zahlen. Mit Hilfe der Metaanalyse wird aus der nomologischen Not eine Tugend gemacht: Weil die quantitative Forschung tausende von fragmentierten Befunden erbracht hat, wird die Methodik, die diese Fragmentierung erzeugt hat, noch einmal auf ihr eigenes Produkt angewandt und dieser Salto mortale noch als Fortschritt verkauft.
In nicht berufspolitisch motivierten Arbeiten räumt selbst Grawe ein, daß die Ergebnisse der metaanalytischen Auswertungen wegen ihrer methodologischen „Befangenheit“ fragwürdig sind:
„Aus dem Rennen zwischen den verschiedenen Therapieformen scheinen nunmehr doch zwei Sieger hervorzugehen: Die Verhaltenstherapie, weil sie so gut abschneidet, und die Methode der Meta-Analyse, weil sie endlich aufzeigen konnte, was mit anderen Methoden nicht gelungen war … Aber wer sich gefreut hat, hat sich zu früh gefreut. Das zitierte Ergebnis [metaanalytischer Studien zur Effizienz verschiedener Therapieschulen] … ist einfach ein Artefakt der metaanalytischen Methodik“ (Grawe 1987, 521 f.).
Mit der Metaanalyse werden der Willkür in der Interpretation Tür und Tor geöffnet. Die Kriterien, nach denen Studien ausgewählt und beurteilt werden, sind für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbar, geschweige denn beurteilbar. Keiner, mit Sicherheit auch nicht die Metaanalytiker selber, wissen hinterher noch, was ihre Meßergebnisse – sie basieren auf rating-Skalen! – eigentlich bedeuten. Das kontrastiert völlig mit dem Anspruch von Objektivität, mit dem solche Zauberkunststücke vorgetragen werden.
Dafür nur ein Beispiel: Das insgesamt niedrige Effizienzniveau der psychoanalytischen Verfahren sei „unter anderem“ auf ihre schlechten Ergebnisse bei Psychosomatikern zurückzuführen (Grawe 1992b, 27). Dieses Ergebnis stützt sich Grawe zufolge in erster Linie auf eine Untersuchung von Meyer, die 1981 publiziert wurde und von Grawe als „eine der besten je durchgeführten Therapievergleichsstudien“ gelobt wird (Grawe 1992a, 140). Sie zeige klar die Überlegenheit von Gesprächstherapie über Psychoanalyse bei Psychosomatikern. Von S. O. Hoffmann erfährt man aber nur einige Seiten weiter, daß die Patienten der Studie von Meyer überwiegend Neurotiker waren; daß die von Meyer selbst berechneten Effekte ganz andere waren; daß die „Psychoanalyse“ in Wirklichkeit psychoanalytische Fokaltherapie war und von Psychoanalytikern durchgeführt wurde, die keine Fokaltherapieerfahrung hatten; sie „waren in ihrer Ausbildung sogar gegen diesen Ansatz trainiert (meines Wissens verließen sogar deswegen einzelne deshalb die Studie!), die Gesprächstherapeuten hingegen waren ausschließlich für Kurztherapie ausgebildet und hatten nie eine andere Methode durchgeführt“ (Hoffmann 1992, 164 f.).
Dieses Beispiel spricht für sich. Es paßt zum selbstgesteckten Ziel Grawes: Gesundheitspolitik zu machen. In erfrischender Offenheit räumt er ein:
„Das Bild, das ich in den vorangegangenen Abschnitten vom gegenwärtigen Stand und der voraussehbaren Entwicklung der Psychotherapieforschung gezeichnet habe, wird sicher für viele Leser [der Psychologischen Rundschau] mit ihrem bisherigen Bild von der Psychotherapieforschung kontrastieren, indem es eine positivere Leistungsbilanz zieht und optimistischer in die Zukunft blickt, als es der üblichen Darstellung und Selbstdarstellung der Psychotherapieforschung entspricht. Ich hätte leicht ein noch positiveres Bild zeichnen können … Noch leichter wäre es allerdings gewesen, ein noch negativeres Bild zu zeichnen …“ (Grawe 1992a, 155).
Mit welchen Methoden das Bild aufpoliert werden muß, zeigt ein weiteres Beispiel: Grawe (a. a. O.) bezieht sich auf die berühmten verhaltenstherapeutischen Phobien und behauptet, der experimentelle Ansatz habe „zu Fortschritten geführt“, sei „fruchtbar“, habe ihr theoretisches Verständnis erheblich verbessert und als Folge davon könnten solche Störungen heute wirksamer behandelt werden als vor 30 Jahren. Metaanalytisch (!) belegt ist etwas anderes: Die gemessene Effizienz von Psychotherapien korreliert über einen Zeitraum von 60 Jahren mit dem Zeitpunkt der jeweiligen Messung mit .07! Im Klartext: „Die Metaanalyse unterstützt in keiner Weise den Schluß, daß innerhalb der letzten 60 Jahre, die von der Metaanalyse erfaßt wurden, Verbesserungen in der Psychotherapie erreicht wurden.“ (Sechrest 1992, 22).
VI. Schluß
Was bedeutet dieser Blick auf die nomologische Psychologie für die Psychoanalyse? Insgesamt, so meine ich, wird man nach dieser Zustandsbeschreibung nicht mehr ohne weiteres den Optimismus mancher Psychotherapieforscher teilen können, daß von ihnen überhaupt, geschweige denn bald und für die psychotherapeutische Praxis relevante Forschungsergebnisse zu erwarten sind. Das nomologische Paradigma befindet sich in einer Krise; diese Krise ist eine unmittelbare Folge des Versuches, ohne Rücksicht auf die Eigenarten des Gegenstands die Forschungsmethodik der Physik zu imitieren. Die Fragmentierung der Theorie und die Irrelevanz für jede Praxis sind der Preis für den Rückzug ins Labor, dem sich die nomologische Psychologie verschrieben hat. Die Vorstellung vom Menschen als einem komplizierten Apparat, dessen Funktionen sich isolieren, isoliert messen und dann wieder technisch zusammenfügen und kontrollieren lassen, ist als Forschungsparadigma praktisch gescheitert. Im Moment wird die Illusion von der Physik-Artigkeit des Psychischen noch mit Hilfe der Metaphorik der kognitiven Psychologie aufrechterhalten. Wenn man die Entwicklung der akademischen Psychologie verfolgt, dann ist jedoch insgesamt eine vorsichtige Annäherung und Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Forschungsmethodik festzustellen, weil alternative Paradigmen gesucht werden. Was die Effizienzforschung angeht, so ist ihre politische Wirkung im Moment zwar enorm, ihre Annahmen und Ergebnisse erweisen sich bei genauerem Hinsehen aber als äußerst fragwürdig.
Umgekehrt erscheinen die beiden – aus nomologischer Perspektive – größten Schwächen der psychoanalytischen Forschung, die „Kontaminiertheit“ ihrer Daten, weil Forscher und Psychoanalytiker ein und dieselbe Person sind und sich Daten und Theorie in der Psychoanalyse nicht so reinlich trennen lassen, auf diesem Hintergrund in einem völlig anderen Licht: Gerade weil in der Psychoanalyse die Daten von vornherein anders mit der Theorie und diese immer schon mit der Praxis verbunden ist, bietet das psychoanalytische Paradigma eine attraktive Alternative zum nomologischen.
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