Kaiser, E. (2022) Hinter dem Gesetz. Eine Deutung von Franz Kafkas Türhüterlegende. Zeitschrift für psychoanalytische Diagnostik und Therapie. 37(1), S. 66-85

Hinter dem Gesetz. Eine Deutung von Franz Kafkas Türhüterlegende

Zusammenfassung

Unter dem Motto eines Zitats von Max Brod – „Wie wenn man ewig an einer Mauer ohne Tür entlanggeht – ins Innere des Ho­fes aber nicht hin­einkommt“ – wird eine Interpretation von Franz Kafkas Vor dem Gesetz versucht. Eine Durchsicht von Beiträgen aus der Literaturwissenschaft weist auf die Irritation, die Kafkas Texte auslösen (Elm) und seine „perversely deliberate evasion of interpretation“ (Bloom). Auch von psychoanalytischen Autoren werden unzählige Deutungen angeboten, die ödipale, narzisstische und masochistische Züge in Kafkas Texten hervorheben, zuletzt Gregorio Kohon 2016, der sieht: „… the encounter with something that seems to be outside language, something that cannot be symbolized […] hence its traumatic character. What comes back to haunt are the tombs of others.“

Im vorliegenden Text wird eine Interpretation von Vor dem Gesetz angeboten, die assoziativ dem Text folgt, eine Gegenübertragungsreaktion aufnimmt und ihn später assoziativ mit der Dynamik des Verlaufs einer psychoanalytischen Behandlung eines Patienten verknüpft. Als Deutungshintergrund wird zunächst Greens Konzept der toten Mutter verwendet, einer klinischen Konstellation, die auf die Depression einer Mutter verweist, deren Ursache ihrem Kind verschlossen bleibt. Mit Hilfe von Aufzeichnungen Kafkas wird hinter seinem Text eine zweite Ebene sichtbar gemacht, in der Unglück als Glück erlebt wird. Diese zweite Ebene wird verstanden als Ausdruck einer Spaltung, wie Freud sie beschrieben hat. Mit ihrer Hilfe manipuliert Kafka den Leser und begibt sich selber in einen Rückzugsort. Eine solche Konstellation, in der psychoanalytischen Literatur als „pathologischer Rückzug“ beschrieben, findet sich wiederholt in Kafkas Werk. Zum Schluss wird vermutet, dass Kafka in seinem Schreiben in einen Dialog mit diesem zurückgezogenen Teil von sich selbst eintritt und den Leser als Gegenüber benutzt, um die damit verbunden unerträglichen, traumatischen Erfahrungen zur Sprache zu bringen.

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